nicht bekümmern; denn wer alles hat, fragt nicht weiter, wie viel? -- So auch nach römisch- katholischen Grundsätzen die kirchliche Verfassung. Sie ist auf jeden Umstand ausführlich, und gleichsam aus einem Stücke. Räumet ihr alle ihre Forderungen ein; so wisset ihr wenigstens, woran ihr euch zu halten habet. Euer Gebäude ist aufgeführt, und in allen Theilen desselben herrscht vollkommene Ruhe. Freylich nur jene fürchterliche Ruhe, wie Montesquieu sagt, die Abends in einer Festung ist, welche des Nachts mit Sturm übergehen soll. Wer aber Ruhe in Lehr und Leben für Glückseligkeit hält, findet sie dennoch nirgend gesicherter, als unter einem römischkatholischen Despoten; oder weil auch hier die Macht noch zu sehr vertheilt ist, unter der despotischen Herrschaft der Kirche selbst.
So bald aber die Freyheit an diesem syste- matischen Gebäude etwas zu verrücken wagt, so drohet Zerrüttung von allen Seiten, und man weis am Ende nicht mehr, was davon stehen bleiben kann. Daher die ausserordentliche Verwirrung, die bürgerlichen sowohl als kirchlichen Unruhen in den ersten Zeiten der Reformation, und die auffallende Verlegenheit der Lehrer und Verbes-
serer
A 3
nicht bekuͤmmern; denn wer alles hat, fragt nicht weiter, wie viel? — So auch nach roͤmiſch- katholiſchen Grundſaͤtzen die kirchliche Verfaſſung. Sie iſt auf jeden Umſtand ausfuͤhrlich, und gleichſam aus einem Stuͤcke. Raͤumet ihr alle ihre Forderungen ein; ſo wiſſet ihr wenigſtens, woran ihr euch zu halten habet. Euer Gebaͤude iſt aufgefuͤhrt, und in allen Theilen deſſelben herrſcht vollkommene Ruhe. Freylich nur jene fuͤrchterliche Ruhe, wie Monteſquieu ſagt, die Abends in einer Feſtung iſt, welche des Nachts mit Sturm uͤbergehen ſoll. Wer aber Ruhe in Lehr und Leben fuͤr Gluͤckſeligkeit haͤlt, findet ſie dennoch nirgend geſicherter, als unter einem roͤmiſchkatholiſchen Deſpoten; oder weil auch hier die Macht noch zu ſehr vertheilt iſt, unter der deſpotiſchen Herrſchaft der Kirche ſelbſt.
So bald aber die Freyheit an dieſem ſyſte- matiſchen Gebaͤude etwas zu verruͤcken wagt, ſo drohet Zerruͤttung von allen Seiten, und man weis am Ende nicht mehr, was davon ſtehen bleiben kann. Daher die auſſerordentliche Verwirrung, die buͤrgerlichen ſowohl als kirchlichen Unruhen in den erſten Zeiten der Reformation, und die auffallende Verlegenheit der Lehrer und Verbeſ-
ſerer
A 3
<TEI><text><body><p><pbfacs="#f0011"n="5"/>
nicht bekuͤmmern; denn wer alles hat, fragt<lb/>
nicht weiter, wie viel? — So auch nach roͤmiſch-<lb/>
katholiſchen Grundſaͤtzen die kirchliche Verfaſſung.<lb/>
Sie iſt auf jeden Umſtand ausfuͤhrlich, und<lb/>
gleichſam aus einem Stuͤcke. Raͤumet ihr alle<lb/>
ihre Forderungen ein; ſo wiſſet ihr wenigſtens,<lb/>
woran ihr euch zu halten habet. Euer Gebaͤude<lb/>
iſt aufgefuͤhrt, und in allen Theilen deſſelben<lb/>
herrſcht vollkommene Ruhe. Freylich nur jene<lb/>
fuͤrchterliche Ruhe, wie Monteſquieu ſagt, die<lb/>
Abends in einer Feſtung iſt, welche des Nachts<lb/>
mit Sturm uͤbergehen ſoll. Wer aber Ruhe in<lb/>
Lehr und Leben fuͤr Gluͤckſeligkeit haͤlt, findet<lb/>ſie dennoch nirgend geſicherter, als unter einem<lb/>
roͤmiſchkatholiſchen Deſpoten; oder weil auch hier<lb/>
die Macht noch zu ſehr vertheilt iſt, unter der<lb/>
deſpotiſchen Herrſchaft der Kirche ſelbſt<choice><sic>,</sic><corr>.</corr></choice></p><lb/><p>So bald aber die Freyheit an dieſem ſyſte-<lb/>
matiſchen Gebaͤude etwas zu verruͤcken wagt, ſo<lb/>
drohet Zerruͤttung von allen Seiten, und man weis<lb/>
am Ende nicht mehr, was davon ſtehen bleiben<lb/>
kann. Daher die auſſerordentliche Verwirrung,<lb/>
die buͤrgerlichen ſowohl als kirchlichen Unruhen<lb/>
in den erſten Zeiten der Reformation, und die<lb/>
auffallende Verlegenheit der Lehrer und Verbeſ-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">A 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">ſerer</fw><lb/></p></body></text></TEI>
[5/0011]
nicht bekuͤmmern; denn wer alles hat, fragt
nicht weiter, wie viel? — So auch nach roͤmiſch-
katholiſchen Grundſaͤtzen die kirchliche Verfaſſung.
Sie iſt auf jeden Umſtand ausfuͤhrlich, und
gleichſam aus einem Stuͤcke. Raͤumet ihr alle
ihre Forderungen ein; ſo wiſſet ihr wenigſtens,
woran ihr euch zu halten habet. Euer Gebaͤude
iſt aufgefuͤhrt, und in allen Theilen deſſelben
herrſcht vollkommene Ruhe. Freylich nur jene
fuͤrchterliche Ruhe, wie Monteſquieu ſagt, die
Abends in einer Feſtung iſt, welche des Nachts
mit Sturm uͤbergehen ſoll. Wer aber Ruhe in
Lehr und Leben fuͤr Gluͤckſeligkeit haͤlt, findet
ſie dennoch nirgend geſicherter, als unter einem
roͤmiſchkatholiſchen Deſpoten; oder weil auch hier
die Macht noch zu ſehr vertheilt iſt, unter der
deſpotiſchen Herrſchaft der Kirche ſelbſt.
So bald aber die Freyheit an dieſem ſyſte-
matiſchen Gebaͤude etwas zu verruͤcken wagt, ſo
drohet Zerruͤttung von allen Seiten, und man weis
am Ende nicht mehr, was davon ſtehen bleiben
kann. Daher die auſſerordentliche Verwirrung,
die buͤrgerlichen ſowohl als kirchlichen Unruhen
in den erſten Zeiten der Reformation, und die
auffallende Verlegenheit der Lehrer und Verbeſ-
ſerer
A 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/11>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.