Meißner, Alfred: Der Müller vom Höft. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 177–274. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.abscheulicher Traum gewesen. Künftighin lass' ich hangen, was hängt. Er stieg ab, ging in sein Zimmer, wusch sich, und während Wendelin sich im Hofe noch Allerlei zu schaffen machte, um jede Spur der That zu entfernen, sank der Reinbacher in einen tiefen, langen Schlaf. VI. Am Morgen, der diesen Ereignissen folgte, saß der ehrenfeste Bürgermeister von Nienburg, Ruprecht Scipio Balbus, mit Frau und Tochter beim Frühstück. Er war in Hemdärmeln und bloßem Kopfe; seine Perrücke, das Symbol seiner Würde, hing unweit auf dem Perrückenstock, und der kleine Barbier des Ortes war eben daran, die letzte Locke zu ordnen, denn es war heute Gerichtstag. Dem Gesichte des Bürgermeisters hatte das Bewußtsein einer hohen Stellung und eines unermeßlichen Einflusses unverwischliche Züge eingegraben. Er war ganz Würde, ganz Adel, ganz Decorum. Klein und dick, von apoplektischem Habitus, rothwangig und rothnasig war der ehrenfeste Herr, und sobald eine Sache nicht ganz nach dem Wunsche des Amtes und der hohen Obrigkeit gehen wollte, braus'te eine cholerische Natur abscheulicher Traum gewesen. Künftighin lass' ich hangen, was hängt. Er stieg ab, ging in sein Zimmer, wusch sich, und während Wendelin sich im Hofe noch Allerlei zu schaffen machte, um jede Spur der That zu entfernen, sank der Reinbacher in einen tiefen, langen Schlaf. VI. Am Morgen, der diesen Ereignissen folgte, saß der ehrenfeste Bürgermeister von Nienburg, Ruprecht Scipio Balbus, mit Frau und Tochter beim Frühstück. Er war in Hemdärmeln und bloßem Kopfe; seine Perrücke, das Symbol seiner Würde, hing unweit auf dem Perrückenstock, und der kleine Barbier des Ortes war eben daran, die letzte Locke zu ordnen, denn es war heute Gerichtstag. Dem Gesichte des Bürgermeisters hatte das Bewußtsein einer hohen Stellung und eines unermeßlichen Einflusses unverwischliche Züge eingegraben. Er war ganz Würde, ganz Adel, ganz Decorum. Klein und dick, von apoplektischem Habitus, rothwangig und rothnasig war der ehrenfeste Herr, und sobald eine Sache nicht ganz nach dem Wunsche des Amtes und der hohen Obrigkeit gehen wollte, braus'te eine cholerische Natur <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <p><pb facs="#f0044"/> abscheulicher Traum gewesen. Künftighin lass' ich hangen, was hängt.</p><lb/> <p>Er stieg ab, ging in sein Zimmer, wusch sich, und während Wendelin sich im Hofe noch Allerlei zu schaffen machte, um jede Spur der That zu entfernen, sank der Reinbacher in einen tiefen, langen Schlaf.</p><lb/> </div> <div type="chapter" n="6"> <head>VI.</head> <p>Am Morgen, der diesen Ereignissen folgte, saß der ehrenfeste Bürgermeister von Nienburg, Ruprecht Scipio Balbus, mit Frau und Tochter beim Frühstück. Er war in Hemdärmeln und bloßem Kopfe; seine Perrücke, das Symbol seiner Würde, hing unweit auf dem Perrückenstock, und der kleine Barbier des Ortes war eben daran, die letzte Locke zu ordnen, denn es war heute Gerichtstag.</p><lb/> <p>Dem Gesichte des Bürgermeisters hatte das Bewußtsein einer hohen Stellung und eines unermeßlichen Einflusses unverwischliche Züge eingegraben. Er war ganz Würde, ganz Adel, ganz Decorum. Klein und dick, von apoplektischem Habitus, rothwangig und rothnasig war der ehrenfeste Herr, und sobald eine Sache nicht ganz nach dem Wunsche des Amtes und der hohen Obrigkeit gehen wollte, braus'te eine cholerische Natur<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0044]
abscheulicher Traum gewesen. Künftighin lass' ich hangen, was hängt.
Er stieg ab, ging in sein Zimmer, wusch sich, und während Wendelin sich im Hofe noch Allerlei zu schaffen machte, um jede Spur der That zu entfernen, sank der Reinbacher in einen tiefen, langen Schlaf.
VI. Am Morgen, der diesen Ereignissen folgte, saß der ehrenfeste Bürgermeister von Nienburg, Ruprecht Scipio Balbus, mit Frau und Tochter beim Frühstück. Er war in Hemdärmeln und bloßem Kopfe; seine Perrücke, das Symbol seiner Würde, hing unweit auf dem Perrückenstock, und der kleine Barbier des Ortes war eben daran, die letzte Locke zu ordnen, denn es war heute Gerichtstag.
Dem Gesichte des Bürgermeisters hatte das Bewußtsein einer hohen Stellung und eines unermeßlichen Einflusses unverwischliche Züge eingegraben. Er war ganz Würde, ganz Adel, ganz Decorum. Klein und dick, von apoplektischem Habitus, rothwangig und rothnasig war der ehrenfeste Herr, und sobald eine Sache nicht ganz nach dem Wunsche des Amtes und der hohen Obrigkeit gehen wollte, braus'te eine cholerische Natur
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Zitationshilfe: | Meißner, Alfred: Der Müller vom Höft. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 177–274. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_hoeft_1910/44>, abgerufen am 16.02.2025. |