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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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§ 24. Unmittelbarer Zwang.
an dem Betroffenen als einen ausserordentlich geringfügigen Eingriff
erscheinen lassen.

1. Der erste Fall ist der der dringenden Gefahr. Aus dem
Einzeldasein können sich Gefahren ergeben für Andere und damit für
die gute Ordnung des Gemeinwesens, die nicht zugleich einen Angriff
auf die öffentliche Verwaltung selbst (oben I), noch eine strafbare
Handlung bedeuten (oben II); die beiden anderen Arten unmittelbaren
Polizeizwanges sind also ausgeschlossen; die gewöhnlichen rechts-
staatlich geordneten Mittel müssen ausreichen, um Vorkehrung zu
treffen. Wenn aber diese Gefahr mit besonderer Gewalt und Plötzlich-
keit auftritt, dann greift das polizeiliche Notstandsrecht Platz. Der
tobsüchtige Mensch wird überwältigt, das bösartige Tier getötet, das
brennende Gebäude zusammengerissen. Für den einzelnen Unter-
thanen würde das Civilrecht solche Eingriffe nur zulassen unter den
Voraussetzungen der Abwehr für ihn selbst oder einen Anderen, Not-
wehr oder Notstand, oder der Geschäftsführung ohne Auftrag, irgend
ein besonderer Titel müsste gegeben sein. Für die Polizei allein wirkt
der Notstand der öffentlichen Ordnung, die da beteiligt ist, als er-
mächtigender Grund.

Unter Umständen erhält aber dieses Notstandsrecht noch eine
besondere Verschärfung: das sind die Fälle der öffentlichen
Not,
wo Naturgewalten mit grosser Macht auftreten, um Lebens-
gefahr und Zerstörung von Eigentum in weitem Umfange zu drohen,
Feuersnot, Wassersnot. Dass die Gewaltmassregeln, die da zur Ver-
wendung kommen, eine entsprechend grossartige Gestalt annehmen,
ist nur das Äusserliche. Juristisch bedeutsam ist vor allem die
Wendung, die sie nehmen können. Man zerstört nicht bloss das
brennende Haus, sondern schiesst auch benachbarte Häuserreihen mit
Kanonen zusammen; man durchsticht den Damm, mit welchem der
Eigentümer sein Grundstück schützt, um der gestauten Flut Abfluss
zu verschaffen. Alle Polizeimassregeln richten sich sonst gegen den
Punkt, von welchem die Störung ausgeht: das ist aber hier nicht das
Nachbarhaus noch der Damm, sondern das brennende Haus, die heran-
drängende Wassermasse des Flusses. Die Menschenkraft erkennt sich nur
als ohnmächtig gegenüber der eigentlichen Quelle des Übels. Deshalb
wendet sie sich gegen das unschuldige Objekt; oder vielmehr, richtiger ge-
sagt, gegen das minder schuldige. Denn die Häuser, welche den Brand
weiter zu befördern drohen, der Damm, welcher die Flut gefahrvoll staut,
sind immer auch ihrerseits öffentliche Schädlichkeiten, Hülfsschäd-
lichkeiten
wenigstens, insofern sie die eigentliche Schädlichkeit in
ihrer Wirksamkeit steigern und unterstützen. Darum fällt auch ihre Be-

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§ 24. Unmittelbarer Zwang.
an dem Betroffenen als einen auſserordentlich geringfügigen Eingriff
erscheinen lassen.

1. Der erste Fall ist der der dringenden Gefahr. Aus dem
Einzeldasein können sich Gefahren ergeben für Andere und damit für
die gute Ordnung des Gemeinwesens, die nicht zugleich einen Angriff
auf die öffentliche Verwaltung selbst (oben I), noch eine strafbare
Handlung bedeuten (oben II); die beiden anderen Arten unmittelbaren
Polizeizwanges sind also ausgeschlossen; die gewöhnlichen rechts-
staatlich geordneten Mittel müssen ausreichen, um Vorkehrung zu
treffen. Wenn aber diese Gefahr mit besonderer Gewalt und Plötzlich-
keit auftritt, dann greift das polizeiliche Notstandsrecht Platz. Der
tobsüchtige Mensch wird überwältigt, das bösartige Tier getötet, das
brennende Gebäude zusammengerissen. Für den einzelnen Unter-
thanen würde das Civilrecht solche Eingriffe nur zulassen unter den
Voraussetzungen der Abwehr für ihn selbst oder einen Anderen, Not-
wehr oder Notstand, oder der Geschäftsführung ohne Auftrag, irgend
ein besonderer Titel müſste gegeben sein. Für die Polizei allein wirkt
der Notstand der öffentlichen Ordnung, die da beteiligt ist, als er-
mächtigender Grund.

Unter Umständen erhält aber dieses Notstandsrecht noch eine
besondere Verschärfung: das sind die Fälle der öffentlichen
Not,
wo Naturgewalten mit groſser Macht auftreten, um Lebens-
gefahr und Zerstörung von Eigentum in weitem Umfange zu drohen,
Feuersnot, Wassersnot. Daſs die Gewaltmaſsregeln, die da zur Ver-
wendung kommen, eine entsprechend groſsartige Gestalt annehmen,
ist nur das Äuſserliche. Juristisch bedeutsam ist vor allem die
Wendung, die sie nehmen können. Man zerstört nicht bloſs das
brennende Haus, sondern schieſst auch benachbarte Häuserreihen mit
Kanonen zusammen; man durchsticht den Damm, mit welchem der
Eigentümer sein Grundstück schützt, um der gestauten Flut Abfluſs
zu verschaffen. Alle Polizeimaſsregeln richten sich sonst gegen den
Punkt, von welchem die Störung ausgeht: das ist aber hier nicht das
Nachbarhaus noch der Damm, sondern das brennende Haus, die heran-
drängende Wassermasse des Flusses. Die Menschenkraft erkennt sich nur
als ohnmächtig gegenüber der eigentlichen Quelle des Übels. Deshalb
wendet sie sich gegen das unschuldige Objekt; oder vielmehr, richtiger ge-
sagt, gegen das minder schuldige. Denn die Häuser, welche den Brand
weiter zu befördern drohen, der Damm, welcher die Flut gefahrvoll staut,
sind immer auch ihrerseits öffentliche Schädlichkeiten, Hülfsschäd-
lichkeiten
wenigstens, insofern sie die eigentliche Schädlichkeit in
ihrer Wirksamkeit steigern und unterstützen. Darum fällt auch ihre Be-

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[355/0375] § 24. Unmittelbarer Zwang. an dem Betroffenen als einen auſserordentlich geringfügigen Eingriff erscheinen lassen. 1. Der erste Fall ist der der dringenden Gefahr. Aus dem Einzeldasein können sich Gefahren ergeben für Andere und damit für die gute Ordnung des Gemeinwesens, die nicht zugleich einen Angriff auf die öffentliche Verwaltung selbst (oben I), noch eine strafbare Handlung bedeuten (oben II); die beiden anderen Arten unmittelbaren Polizeizwanges sind also ausgeschlossen; die gewöhnlichen rechts- staatlich geordneten Mittel müssen ausreichen, um Vorkehrung zu treffen. Wenn aber diese Gefahr mit besonderer Gewalt und Plötzlich- keit auftritt, dann greift das polizeiliche Notstandsrecht Platz. Der tobsüchtige Mensch wird überwältigt, das bösartige Tier getötet, das brennende Gebäude zusammengerissen. Für den einzelnen Unter- thanen würde das Civilrecht solche Eingriffe nur zulassen unter den Voraussetzungen der Abwehr für ihn selbst oder einen Anderen, Not- wehr oder Notstand, oder der Geschäftsführung ohne Auftrag, irgend ein besonderer Titel müſste gegeben sein. Für die Polizei allein wirkt der Notstand der öffentlichen Ordnung, die da beteiligt ist, als er- mächtigender Grund. Unter Umständen erhält aber dieses Notstandsrecht noch eine besondere Verschärfung: das sind die Fälle der öffentlichen Not, wo Naturgewalten mit groſser Macht auftreten, um Lebens- gefahr und Zerstörung von Eigentum in weitem Umfange zu drohen, Feuersnot, Wassersnot. Daſs die Gewaltmaſsregeln, die da zur Ver- wendung kommen, eine entsprechend groſsartige Gestalt annehmen, ist nur das Äuſserliche. Juristisch bedeutsam ist vor allem die Wendung, die sie nehmen können. Man zerstört nicht bloſs das brennende Haus, sondern schieſst auch benachbarte Häuserreihen mit Kanonen zusammen; man durchsticht den Damm, mit welchem der Eigentümer sein Grundstück schützt, um der gestauten Flut Abfluſs zu verschaffen. Alle Polizeimaſsregeln richten sich sonst gegen den Punkt, von welchem die Störung ausgeht: das ist aber hier nicht das Nachbarhaus noch der Damm, sondern das brennende Haus, die heran- drängende Wassermasse des Flusses. Die Menschenkraft erkennt sich nur als ohnmächtig gegenüber der eigentlichen Quelle des Übels. Deshalb wendet sie sich gegen das unschuldige Objekt; oder vielmehr, richtiger ge- sagt, gegen das minder schuldige. Denn die Häuser, welche den Brand weiter zu befördern drohen, der Damm, welcher die Flut gefahrvoll staut, sind immer auch ihrerseits öffentliche Schädlichkeiten, Hülfsschäd- lichkeiten wenigstens, insofern sie die eigentliche Schädlichkeit in ihrer Wirksamkeit steigern und unterstützen. Darum fällt auch ihre Be- 23*

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/375>, abgerufen am 21.05.2024.