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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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Die Polizeigewalt.
das oben bei der Selbstverteidigung (I n. 3) Gesagte13. Doch hört
hier, ebenso wie bei der Notwehr, die berechtigte Gewaltanwendung
auf, sobald die strafbare Handlung beendigt und zum Ziele gelangt
ist; der Beginn der Strafverfolgung gehört der gerichtlichen Polizei,
die Beseitigung störender Zustände, die sich etwa aus dem Delikt er-
geben haben, anderen Formen des Polizeizwangs14.

III. Die dritte Art des selbstverständlichen unmittelbaren Zwanges
schliesst sich an das civil- und strafrechtliche Institut des Notstands-
rechts
an: das Missverhältnis der zugefügten Verletzung zu dem
wertvolleren Rechtsgut, das nur dadurch gerettet werden konnte,
nimmt jener die Rechtswidrigkeit15. Das Rechtsgut, das die Polizei
schützt, ist die gute Ordnung des Gemeinwesens; die Schranke, die
ihrer Gewaltanwendung entgegensteht, ist die durch den verfassungs-
rechtlichen Vorbehalt geschützte Freiheit. Durch besondere Umstände
kann nun die zuzufügende Gewaltanwendung im Verhältnis zu der
dadurch abzuwendenden Störung als so geringwertig sich darstellen,
dass die Schranke von selbst zurückweicht. Das ist das polizei-
liche Notstandsrecht
. Es macht die Gewaltanwendung recht-
mässig, Notwehr dagegen unzulässig, den Widerstand vielmehr strafbar
nach den allgemeinen dafür geltenden Regeln (unten § 25, I).

Umstände, die ein solches Missverhältnis darstellen, können in
zweierlei Weise zur Wirksamkeit kommen: so, dass die Störung selbst das
Mass des Gewöhnlichen überschreitet, oder so, dass sie die Gewaltübung

13 Bayr. Ob.G.H. 7. Jan. 1879 (Samml. IX S. 29): Ein Fuhrmann lässt in
München auf der Strasse sein Fuhrwerk unbeaufsichtigt stehen, was bei Polizei-
strafe verboten ist. Die Gendarmen holen ihn gewaltsam aus dem Wirtshause
heraus und schleppen ihn an sein Fuhrwerk, damit er fortfahre. Eine sehr be-
denkliche Art des unmittelbaren Zwangs! Die Gewaltanwendung konnte nur auf
Beseitigung des aufsichtslosen Wagens gehen.
14 Es kann die Frage aufgeworfen werden, ob die Gewaltanwendung denn ohne
weiteres zulässig sein soll auch gegenüber einer noch so geringfügigen Strafbarkeit.
Eine Rechtsgrenze wird sich aber hier nicht ziehen lassen; es steht hier wie bei
dem Rechte der polizeilichen Selbstverteidigung. Höchstens mag man den Polizei-
beamten eine gewisse Nachsicht anempfehlen: Edel, Pol.Stf.G.B. S. 153; besser
noch Bingner u. Eisenlohr, Bad. Stf.R. S. 180 ff. -- Wo die strafbare Hand-
lung in dauernden Zuständen erscheint, ordnet das Gesetz häufig die Unterdrückung
in Form polizeilicher Zwangsvollstreckung an, also durch ein zu vollstreckendes
Einzelverbot; dann ist der unmittelbare Zwang ausgeschlossen. Bayr. Pol.Stf.G.B.
Art. 32 Abs. 1, Art. 33 Abs. 2, Art. 34 Abs. 2, Art. 50 a; Gew.O. § 15 Abs. 2
(Landmann, Komment. I S. 122, 123).
15 Zu dem Folgenden: Stammler, Strafrechtliche Bedeutung des Notstandes;
v. Thur, Notstand im Civilrecht; Wessely, Befugnisse des Notstandes und der
Notwehr; R. Merkel, Kollision rechtmässiger Interessen.

Die Polizeigewalt.
das oben bei der Selbstverteidigung (I n. 3) Gesagte13. Doch hört
hier, ebenso wie bei der Notwehr, die berechtigte Gewaltanwendung
auf, sobald die strafbare Handlung beendigt und zum Ziele gelangt
ist; der Beginn der Strafverfolgung gehört der gerichtlichen Polizei,
die Beseitigung störender Zustände, die sich etwa aus dem Delikt er-
geben haben, anderen Formen des Polizeizwangs14.

III. Die dritte Art des selbstverständlichen unmittelbaren Zwanges
schlieſst sich an das civil- und strafrechtliche Institut des Notstands-
rechts
an: das Miſsverhältnis der zugefügten Verletzung zu dem
wertvolleren Rechtsgut, das nur dadurch gerettet werden konnte,
nimmt jener die Rechtswidrigkeit15. Das Rechtsgut, das die Polizei
schützt, ist die gute Ordnung des Gemeinwesens; die Schranke, die
ihrer Gewaltanwendung entgegensteht, ist die durch den verfassungs-
rechtlichen Vorbehalt geschützte Freiheit. Durch besondere Umstände
kann nun die zuzufügende Gewaltanwendung im Verhältnis zu der
dadurch abzuwendenden Störung als so geringwertig sich darstellen,
daſs die Schranke von selbst zurückweicht. Das ist das polizei-
liche Notstandsrecht
. Es macht die Gewaltanwendung recht-
mäſsig, Notwehr dagegen unzulässig, den Widerstand vielmehr strafbar
nach den allgemeinen dafür geltenden Regeln (unten § 25, I).

Umstände, die ein solches Miſsverhältnis darstellen, können in
zweierlei Weise zur Wirksamkeit kommen: so, daſs die Störung selbst das
Maſs des Gewöhnlichen überschreitet, oder so, daſs sie die Gewaltübung

13 Bayr. Ob.G.H. 7. Jan. 1879 (Samml. IX S. 29): Ein Fuhrmann läſst in
München auf der Straſse sein Fuhrwerk unbeaufsichtigt stehen, was bei Polizei-
strafe verboten ist. Die Gendarmen holen ihn gewaltsam aus dem Wirtshause
heraus und schleppen ihn an sein Fuhrwerk, damit er fortfahre. Eine sehr be-
denkliche Art des unmittelbaren Zwangs! Die Gewaltanwendung konnte nur auf
Beseitigung des aufsichtslosen Wagens gehen.
14 Es kann die Frage aufgeworfen werden, ob die Gewaltanwendung denn ohne
weiteres zulässig sein soll auch gegenüber einer noch so geringfügigen Strafbarkeit.
Eine Rechtsgrenze wird sich aber hier nicht ziehen lassen; es steht hier wie bei
dem Rechte der polizeilichen Selbstverteidigung. Höchstens mag man den Polizei-
beamten eine gewisse Nachsicht anempfehlen: Edel, Pol.Stf.G.B. S. 153; besser
noch Bingner u. Eisenlohr, Bad. Stf.R. S. 180 ff. — Wo die strafbare Hand-
lung in dauernden Zuständen erscheint, ordnet das Gesetz häufig die Unterdrückung
in Form polizeilicher Zwangsvollstreckung an, also durch ein zu vollstreckendes
Einzelverbot; dann ist der unmittelbare Zwang ausgeschlossen. Bayr. Pol.Stf.G.B.
Art. 32 Abs. 1, Art. 33 Abs. 2, Art. 34 Abs. 2, Art. 50 a; Gew.O. § 15 Abs. 2
(Landmann, Komment. I S. 122, 123).
15 Zu dem Folgenden: Stammler, Strafrechtliche Bedeutung des Notstandes;
v. Thur, Notstand im Civilrecht; Wessely, Befugnisse des Notstandes und der
Notwehr; R. Merkel, Kollision rechtmäſsiger Interessen.
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[354/0374] Die Polizeigewalt. das oben bei der Selbstverteidigung (I n. 3) Gesagte 13. Doch hört hier, ebenso wie bei der Notwehr, die berechtigte Gewaltanwendung auf, sobald die strafbare Handlung beendigt und zum Ziele gelangt ist; der Beginn der Strafverfolgung gehört der gerichtlichen Polizei, die Beseitigung störender Zustände, die sich etwa aus dem Delikt er- geben haben, anderen Formen des Polizeizwangs 14. III. Die dritte Art des selbstverständlichen unmittelbaren Zwanges schlieſst sich an das civil- und strafrechtliche Institut des Notstands- rechts an: das Miſsverhältnis der zugefügten Verletzung zu dem wertvolleren Rechtsgut, das nur dadurch gerettet werden konnte, nimmt jener die Rechtswidrigkeit 15. Das Rechtsgut, das die Polizei schützt, ist die gute Ordnung des Gemeinwesens; die Schranke, die ihrer Gewaltanwendung entgegensteht, ist die durch den verfassungs- rechtlichen Vorbehalt geschützte Freiheit. Durch besondere Umstände kann nun die zuzufügende Gewaltanwendung im Verhältnis zu der dadurch abzuwendenden Störung als so geringwertig sich darstellen, daſs die Schranke von selbst zurückweicht. Das ist das polizei- liche Notstandsrecht. Es macht die Gewaltanwendung recht- mäſsig, Notwehr dagegen unzulässig, den Widerstand vielmehr strafbar nach den allgemeinen dafür geltenden Regeln (unten § 25, I). Umstände, die ein solches Miſsverhältnis darstellen, können in zweierlei Weise zur Wirksamkeit kommen: so, daſs die Störung selbst das Maſs des Gewöhnlichen überschreitet, oder so, daſs sie die Gewaltübung 13 Bayr. Ob.G.H. 7. Jan. 1879 (Samml. IX S. 29): Ein Fuhrmann läſst in München auf der Straſse sein Fuhrwerk unbeaufsichtigt stehen, was bei Polizei- strafe verboten ist. Die Gendarmen holen ihn gewaltsam aus dem Wirtshause heraus und schleppen ihn an sein Fuhrwerk, damit er fortfahre. Eine sehr be- denkliche Art des unmittelbaren Zwangs! Die Gewaltanwendung konnte nur auf Beseitigung des aufsichtslosen Wagens gehen. 14 Es kann die Frage aufgeworfen werden, ob die Gewaltanwendung denn ohne weiteres zulässig sein soll auch gegenüber einer noch so geringfügigen Strafbarkeit. Eine Rechtsgrenze wird sich aber hier nicht ziehen lassen; es steht hier wie bei dem Rechte der polizeilichen Selbstverteidigung. Höchstens mag man den Polizei- beamten eine gewisse Nachsicht anempfehlen: Edel, Pol.Stf.G.B. S. 153; besser noch Bingner u. Eisenlohr, Bad. Stf.R. S. 180 ff. — Wo die strafbare Hand- lung in dauernden Zuständen erscheint, ordnet das Gesetz häufig die Unterdrückung in Form polizeilicher Zwangsvollstreckung an, also durch ein zu vollstreckendes Einzelverbot; dann ist der unmittelbare Zwang ausgeschlossen. Bayr. Pol.Stf.G.B. Art. 32 Abs. 1, Art. 33 Abs. 2, Art. 34 Abs. 2, Art. 50 a; Gew.O. § 15 Abs. 2 (Landmann, Komment. I S. 122, 123). 15 Zu dem Folgenden: Stammler, Strafrechtliche Bedeutung des Notstandes; v. Thur, Notstand im Civilrecht; Wessely, Befugnisse des Notstandes und der Notwehr; R. Merkel, Kollision rechtmäſsiger Interessen.

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/374>, abgerufen am 23.12.2024.