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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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Die Polizeigewalt.
seitigung doch noch unter den Begriff der Polizei. Dass aber die
Polizeimassregel statt gegen die Hauptschädlichkeit, wie es der Regel
und der Natur der Sache entspräche, gegen die nebensächliche sich
wendet, das macht eben das Ausserordentliche an ihr aus und wird
gerechtfertigt durch die Rechtsgrundsätze des Notstandes16.

2. Das Verhältnis zwischen den Einzelnen kennt Fälle, wo Ge-
walt geübt wird von dem Menschen an dem Menschen, ohne dass der
Gewaltübende selbst oder eine von ihm zu schützende dritte Person
irgendwie bedroht wäre; es geschieht vielmehr um einer Gefahr willen,
in welcher der Vergewaltigte schwebt. Wenn die nötigen Voraus-
setzungen gegeben sind, ist der Thäter straflos, gedeckt gegen civil-
rechtliche Verantwortlichkeit, und Notwehr besteht nicht ihm gegen-
über. Der Geisteskranke, den der Begegnende aufgreift, um ihn zur
Anstalt zu bringen, der Trunkene, welchen der Freund gewaltsam
nach Hause schleppt, darf sich über solche wohlwollende Gewaltthat
nachher nicht beklagen. Der Hauptfall ist der der Rettung aus Lebens-
gefahr, die nach Umständen geradezu unter Misshandlungen stattfindet,
wie z. B. der im Wasser Versinkende an den Haaren gepackt und
herausgezogen wird. Auch gegen seinen Willen und seinen be-
wussten Widerstand kann die Rettung in solcher Weise geschehen:
der Selbstmörder, der sich im Wasser verzweifelt gegen den Retter
wehrt, wird von diesem mit Recht überwältigt, vielleicht sogar durch
einen Faustschlag betäubt, um besser fassbar zu werden. Wir nennen
das rettende Thaten. Man mag diese von unseren Gesetz-
gebungen meist vergessene Art der erlaubten Gewalt noch unter die
allgemeine Rubrik des Notstandes bringen; um eine Not, die die
Gewalt rechtfertigt, handelt es sich auch hier; nur ist eben diese
Not ganz anders gestaltet. Der Fall hat juristisch eher Ähnlichkeit
mit einer negotiorum gestio für den Geretteten unter gleichzeitiger
Annahme einer Willensunfähigkeit auf seiner Seite.

16 Dass der betroffene Teil doch eigentlich der minder Schuldige ist und nur
darunter leidet, dass die Kraft der Abwehr nach der anderen Richtung hin nicht
ausreichte, führt von selbst dazu, einen billigen Ausgleich für ihn zu suchen. Nach
preussischem Rechte wollte man früher dem Eigentümer des zur Abwehr der Feuers-
brunst niedergerissenen Hauses eine actio de in rem verso geben gegen die Feuer-
societäten, welche den Vorteil davon haben. Auch die Grundsätze der Havarei-
gemeinschaft sollten für die beteiligten Hausbesitzer anwendbar sein; Foerste-
mann,
Pol.R. S. 460 ff. Dass die Franzosen in diesem Falle die lex Rhodia de
jactu anrufen: Theorie des franz. V.R. S. 193. -- Wenn bei Foerstemann,
a. a. O. S. 461, auf die Möglichkeit einer Haftbarkeit der "Behörde" hingewiesen
wird, so ist damit die Entschädigungspflicht der Staatskasse gemeint, die nach dem
noch näher zu erörternden Rechtsinstitut der öffentlichrechtlichen Entschädigung
sich richten würde.

Die Polizeigewalt.
seitigung doch noch unter den Begriff der Polizei. Daſs aber die
Polizeimaſsregel statt gegen die Hauptschädlichkeit, wie es der Regel
und der Natur der Sache entspräche, gegen die nebensächliche sich
wendet, das macht eben das Auſserordentliche an ihr aus und wird
gerechtfertigt durch die Rechtsgrundsätze des Notstandes16.

2. Das Verhältnis zwischen den Einzelnen kennt Fälle, wo Ge-
walt geübt wird von dem Menschen an dem Menschen, ohne daſs der
Gewaltübende selbst oder eine von ihm zu schützende dritte Person
irgendwie bedroht wäre; es geschieht vielmehr um einer Gefahr willen,
in welcher der Vergewaltigte schwebt. Wenn die nötigen Voraus-
setzungen gegeben sind, ist der Thäter straflos, gedeckt gegen civil-
rechtliche Verantwortlichkeit, und Notwehr besteht nicht ihm gegen-
über. Der Geisteskranke, den der Begegnende aufgreift, um ihn zur
Anstalt zu bringen, der Trunkene, welchen der Freund gewaltsam
nach Hause schleppt, darf sich über solche wohlwollende Gewaltthat
nachher nicht beklagen. Der Hauptfall ist der der Rettung aus Lebens-
gefahr, die nach Umständen geradezu unter Miſshandlungen stattfindet,
wie z. B. der im Wasser Versinkende an den Haaren gepackt und
herausgezogen wird. Auch gegen seinen Willen und seinen be-
wuſsten Widerstand kann die Rettung in solcher Weise geschehen:
der Selbstmörder, der sich im Wasser verzweifelt gegen den Retter
wehrt, wird von diesem mit Recht überwältigt, vielleicht sogar durch
einen Faustschlag betäubt, um besser faſsbar zu werden. Wir nennen
das rettende Thaten. Man mag diese von unseren Gesetz-
gebungen meist vergessene Art der erlaubten Gewalt noch unter die
allgemeine Rubrik des Notstandes bringen; um eine Not, die die
Gewalt rechtfertigt, handelt es sich auch hier; nur ist eben diese
Not ganz anders gestaltet. Der Fall hat juristisch eher Ähnlichkeit
mit einer negotiorum gestio für den Geretteten unter gleichzeitiger
Annahme einer Willensunfähigkeit auf seiner Seite.

16 Daſs der betroffene Teil doch eigentlich der minder Schuldige ist und nur
darunter leidet, daſs die Kraft der Abwehr nach der anderen Richtung hin nicht
ausreichte, führt von selbst dazu, einen billigen Ausgleich für ihn zu suchen. Nach
preuſsischem Rechte wollte man früher dem Eigentümer des zur Abwehr der Feuers-
brunst niedergerissenen Hauses eine actio de in rem verso geben gegen die Feuer-
societäten, welche den Vorteil davon haben. Auch die Grundsätze der Havarei-
gemeinschaft sollten für die beteiligten Hausbesitzer anwendbar sein; Foerste-
mann,
Pol.R. S. 460 ff. Daſs die Franzosen in diesem Falle die lex Rhodia de
jactu anrufen: Theorie des franz. V.R. S. 193. — Wenn bei Foerstemann,
a. a. O. S. 461, auf die Möglichkeit einer Haftbarkeit der „Behörde“ hingewiesen
wird, so ist damit die Entschädigungspflicht der Staatskasse gemeint, die nach dem
noch näher zu erörternden Rechtsinstitut der öffentlichrechtlichen Entschädigung
sich richten würde.
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[356/0376] Die Polizeigewalt. seitigung doch noch unter den Begriff der Polizei. Daſs aber die Polizeimaſsregel statt gegen die Hauptschädlichkeit, wie es der Regel und der Natur der Sache entspräche, gegen die nebensächliche sich wendet, das macht eben das Auſserordentliche an ihr aus und wird gerechtfertigt durch die Rechtsgrundsätze des Notstandes 16. 2. Das Verhältnis zwischen den Einzelnen kennt Fälle, wo Ge- walt geübt wird von dem Menschen an dem Menschen, ohne daſs der Gewaltübende selbst oder eine von ihm zu schützende dritte Person irgendwie bedroht wäre; es geschieht vielmehr um einer Gefahr willen, in welcher der Vergewaltigte schwebt. Wenn die nötigen Voraus- setzungen gegeben sind, ist der Thäter straflos, gedeckt gegen civil- rechtliche Verantwortlichkeit, und Notwehr besteht nicht ihm gegen- über. Der Geisteskranke, den der Begegnende aufgreift, um ihn zur Anstalt zu bringen, der Trunkene, welchen der Freund gewaltsam nach Hause schleppt, darf sich über solche wohlwollende Gewaltthat nachher nicht beklagen. Der Hauptfall ist der der Rettung aus Lebens- gefahr, die nach Umständen geradezu unter Miſshandlungen stattfindet, wie z. B. der im Wasser Versinkende an den Haaren gepackt und herausgezogen wird. Auch gegen seinen Willen und seinen be- wuſsten Widerstand kann die Rettung in solcher Weise geschehen: der Selbstmörder, der sich im Wasser verzweifelt gegen den Retter wehrt, wird von diesem mit Recht überwältigt, vielleicht sogar durch einen Faustschlag betäubt, um besser faſsbar zu werden. Wir nennen das rettende Thaten. Man mag diese von unseren Gesetz- gebungen meist vergessene Art der erlaubten Gewalt noch unter die allgemeine Rubrik des Notstandes bringen; um eine Not, die die Gewalt rechtfertigt, handelt es sich auch hier; nur ist eben diese Not ganz anders gestaltet. Der Fall hat juristisch eher Ähnlichkeit mit einer negotiorum gestio für den Geretteten unter gleichzeitiger Annahme einer Willensunfähigkeit auf seiner Seite. 16 Daſs der betroffene Teil doch eigentlich der minder Schuldige ist und nur darunter leidet, daſs die Kraft der Abwehr nach der anderen Richtung hin nicht ausreichte, führt von selbst dazu, einen billigen Ausgleich für ihn zu suchen. Nach preuſsischem Rechte wollte man früher dem Eigentümer des zur Abwehr der Feuers- brunst niedergerissenen Hauses eine actio de in rem verso geben gegen die Feuer- societäten, welche den Vorteil davon haben. Auch die Grundsätze der Havarei- gemeinschaft sollten für die beteiligten Hausbesitzer anwendbar sein; Foerste- mann, Pol.R. S. 460 ff. Daſs die Franzosen in diesem Falle die lex Rhodia de jactu anrufen: Theorie des franz. V.R. S. 193. — Wenn bei Foerstemann, a. a. O. S. 461, auf die Möglichkeit einer Haftbarkeit der „Behörde“ hingewiesen wird, so ist damit die Entschädigungspflicht der Staatskasse gemeint, die nach dem noch näher zu erörternden Rechtsinstitut der öffentlichrechtlichen Entschädigung sich richten würde.

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/376>, abgerufen am 21.05.2024.