erstorbenen Zügen zeigte sich plötzliches Leben; ihre tief eingesunkenen Augen leuchteten vor Begeisterung, und ihre Stimme erscholl laut und voll, als ob sie zu Tausenden rede. Es war ein Augenblick, den ich nie vergessen werde. Jetzt hielt sie erschöpft inne und setzte sich wieder nieder. Diese Frau mußte viel gesehen und gehört, viel gefühlt und gedacht, vielleicht auch gar manches gelesen haben. Was sollte ich ihr antworten?
"Marah Durimeh, tadelst du auch mich?" fragte ich sie.
"Dich? Warum meinst du das?"
"Weil ich auch ein Bote bin."
"Du?! Wer hat dich gesandt?"
"Niemand. Ich komme selbst."
"Um zu lehren?"
"Nein, und doch auch ja."
"Ich verstehe dich nicht, mein Sohn. Erkläre es!"
"Du selbst hast gesagt, daß du Boten der That wünschest, aber der That, die nicht im Meere verlischt. Gott teilt die Gaben nach seiner Weisheit aus. Dem einen giebt er die erobernde Rede und dem andern befiehlt er, zu wirken, bevor die Zeit kommt, da er nicht mehr wirken kann. Mir ist die Gabe der Rede versagt, aber ich muß wuchern mit dem Pfunde, das Gott mir ver- liehen hat. Darum läßt es mich in der Heimat nimmer ruhen; ich muß immer wieder hinaus, um zu lehren und zu predigen, nicht durch das Wort, sondern dadurch, daß ich jedem Bruder, bei dem ich einkehre, nützlich bin. Ich war in Ländern und bei Völkern, deren Namen du nicht kennst; ich bin eingekehrt bei weiß, gelb, braun und schwarz gefärbten Menschen; ich war der Gast von Christen, Juden, Moslemin und Heiden; bei ihnen allen habe ich Liebe und Barmherzigkeit gesäet. Ich ging wieder fort
erſtorbenen Zügen zeigte ſich plötzliches Leben; ihre tief eingeſunkenen Augen leuchteten vor Begeiſterung, und ihre Stimme erſcholl laut und voll, als ob ſie zu Tauſenden rede. Es war ein Augenblick, den ich nie vergeſſen werde. Jetzt hielt ſie erſchöpft inne und ſetzte ſich wieder nieder. Dieſe Frau mußte viel geſehen und gehört, viel gefühlt und gedacht, vielleicht auch gar manches geleſen haben. Was ſollte ich ihr antworten?
„Marah Durimeh, tadelſt du auch mich?“ fragte ich ſie.
„Dich? Warum meinſt du das?“
„Weil ich auch ein Bote bin.“
„Du?! Wer hat dich geſandt?“
„Niemand. Ich komme ſelbſt.“
„Um zu lehren?“
„Nein, und doch auch ja.“
„Ich verſtehe dich nicht, mein Sohn. Erkläre es!“
„Du ſelbſt haſt geſagt, daß du Boten der That wünſcheſt, aber der That, die nicht im Meere verliſcht. Gott teilt die Gaben nach ſeiner Weisheit aus. Dem einen giebt er die erobernde Rede und dem andern befiehlt er, zu wirken, bevor die Zeit kommt, da er nicht mehr wirken kann. Mir iſt die Gabe der Rede verſagt, aber ich muß wuchern mit dem Pfunde, das Gott mir ver- liehen hat. Darum läßt es mich in der Heimat nimmer ruhen; ich muß immer wieder hinaus, um zu lehren und zu predigen, nicht durch das Wort, ſondern dadurch, daß ich jedem Bruder, bei dem ich einkehre, nützlich bin. Ich war in Ländern und bei Völkern, deren Namen du nicht kennſt; ich bin eingekehrt bei weiß, gelb, braun und ſchwarz gefärbten Menſchen; ich war der Gaſt von Chriſten, Juden, Moslemin und Heiden; bei ihnen allen habe ich Liebe und Barmherzigkeit geſäet. Ich ging wieder fort
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erſtorbenen Zügen zeigte ſich plötzliches Leben; ihre tief
eingeſunkenen Augen leuchteten vor Begeiſterung, und ihre
Stimme erſcholl laut und voll, als ob ſie zu Tauſenden
rede. Es war ein Augenblick, den ich nie vergeſſen werde.
Jetzt hielt ſie erſchöpft inne und ſetzte ſich wieder nieder.
Dieſe Frau mußte viel geſehen und gehört, viel gefühlt
und gedacht, vielleicht auch gar manches geleſen haben.
Was ſollte ich ihr antworten?
„Marah Durimeh, tadelſt du auch mich?“ fragte
ich ſie.
„Dich? Warum meinſt du das?“
„Weil ich auch ein Bote bin.“
„Du?! Wer hat dich geſandt?“
„Niemand. Ich komme ſelbſt.“
„Um zu lehren?“
„Nein, und doch auch ja.“
„Ich verſtehe dich nicht, mein Sohn. Erkläre es!“
„Du ſelbſt haſt geſagt, daß du Boten der That
wünſcheſt, aber der That, die nicht im Meere verliſcht.
Gott teilt die Gaben nach ſeiner Weisheit aus. Dem
einen giebt er die erobernde Rede und dem andern befiehlt
er, zu wirken, bevor die Zeit kommt, da er nicht mehr
wirken kann. Mir iſt die Gabe der Rede verſagt, aber
ich muß wuchern mit dem Pfunde, das Gott mir ver-
liehen hat. Darum läßt es mich in der Heimat nimmer
ruhen; ich muß immer wieder hinaus, um zu lehren und
zu predigen, nicht durch das Wort, ſondern dadurch, daß
ich jedem Bruder, bei dem ich einkehre, nützlich bin. Ich
war in Ländern und bei Völkern, deren Namen du nicht
kennſt; ich bin eingekehrt bei weiß, gelb, braun und ſchwarz
gefärbten Menſchen; ich war der Gaſt von Chriſten,
Juden, Moslemin und Heiden; bei ihnen allen habe ich
Liebe und Barmherzigkeit geſäet. Ich ging wieder fort
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 635. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/649>, abgerufen am 25.11.2024.
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