uns erblickst, hat Hunderte von Leichen mit sich fort- gerissen. Und warum? Frage die Emire des Glaubens, die dort hinter den Bergen von Karitha und Tura Schina wohnten; frage die Scheiks der christlichen Fürsten, die bei den Statthaltern des Sultans waren und dies alles ruhig geschehen ließen! Hat nicht jeder christliche Sultan und Schah das Recht und die Pflicht, die Christen zu schützen, sie mögen sich befinden, wo es nur immer sei? Ich habe heut um Mitternacht die Christen dieses Thales vom Tode errettet, ich, das Weib; warum haben diese Emire weniger Macht als ich? Einst war ich Meleka; jetzt bin ich nur ein altes Weib; aber dennoch hören Türken, Kurden und Chaldani meine Stimme. Auch ich habe heut um Mitternacht das Christentum verkündet, aber nicht das Christentum des Wortes, über dessen Sinn die Abgefallenen streiten, sondern das Christentum der That, daran niemand zweifeln kann. Züchtigt die Bösen, und sie werden es euch später danken, während die Guten, die sich nach Erlösung sehnen, euer Nahen mit Freudigkeit begrüßen werden. Sendet nicht Boten, die wie einzelne Funken im Meere verlöschen, sondern sendet Männer, vor denen sich der Unterdrücker fürchtet; dann werden die Berge jauchzen und die Thäler jubilieren; das Land wird Segen bringen zu jeder Zeit, und es wird das Wort von einem Hirten und einer Herde sich erfüllen. Hat nicht dieser eine Hirt bereits seinen Statthalter auf Erden? Warum wendet ihr selbst euch von ihm weg? Kehrt zu ihm zurück; dann seid ihr einig, und die Macht dessen, der euch sendet, wird die Erde zu dem Belad el Kuds *) machen, in dem Milch und Honig fließt!"
Sie hatte während ihrer Rede sich erhoben. Ihre vorher gebeugte Gestalt stand aufrecht vor mir; in ihren
*) Heiligen Lande.
uns erblickſt, hat Hunderte von Leichen mit ſich fort- geriſſen. Und warum? Frage die Emire des Glaubens, die dort hinter den Bergen von Karitha und Tura Schina wohnten; frage die Scheiks der chriſtlichen Fürſten, die bei den Statthaltern des Sultans waren und dies alles ruhig geſchehen ließen! Hat nicht jeder chriſtliche Sultan und Schah das Recht und die Pflicht, die Chriſten zu ſchützen, ſie mögen ſich befinden, wo es nur immer ſei? Ich habe heut um Mitternacht die Chriſten dieſes Thales vom Tode errettet, ich, das Weib; warum haben dieſe Emire weniger Macht als ich? Einſt war ich Meleka; jetzt bin ich nur ein altes Weib; aber dennoch hören Türken, Kurden und Chaldani meine Stimme. Auch ich habe heut um Mitternacht das Chriſtentum verkündet, aber nicht das Chriſtentum des Wortes, über deſſen Sinn die Abgefallenen ſtreiten, ſondern das Chriſtentum der That, daran niemand zweifeln kann. Züchtigt die Böſen, und ſie werden es euch ſpäter danken, während die Guten, die ſich nach Erlöſung ſehnen, euer Nahen mit Freudigkeit begrüßen werden. Sendet nicht Boten, die wie einzelne Funken im Meere verlöſchen, ſondern ſendet Männer, vor denen ſich der Unterdrücker fürchtet; dann werden die Berge jauchzen und die Thäler jubilieren; das Land wird Segen bringen zu jeder Zeit, und es wird das Wort von einem Hirten und einer Herde ſich erfüllen. Hat nicht dieſer eine Hirt bereits ſeinen Statthalter auf Erden? Warum wendet ihr ſelbſt euch von ihm weg? Kehrt zu ihm zurück; dann ſeid ihr einig, und die Macht deſſen, der euch ſendet, wird die Erde zu dem Belad el Kuds *) machen, in dem Milch und Honig fließt!“
Sie hatte während ihrer Rede ſich erhoben. Ihre vorher gebeugte Geſtalt ſtand aufrecht vor mir; in ihren
*) Heiligen Lande.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0648"n="634"/>
uns erblickſt, hat Hunderte von Leichen mit ſich fort-<lb/>
geriſſen. Und warum? Frage die Emire des Glaubens,<lb/>
die dort hinter den Bergen von Karitha und Tura<lb/>
Schina wohnten; frage die Scheiks der chriſtlichen Fürſten,<lb/>
die bei den Statthaltern des Sultans waren und dies<lb/>
alles ruhig geſchehen ließen! Hat nicht jeder chriſtliche<lb/>
Sultan und Schah das Recht und die Pflicht, die Chriſten<lb/>
zu ſchützen, ſie mögen ſich befinden, wo es nur immer ſei?<lb/>
Ich habe heut um Mitternacht die Chriſten dieſes Thales<lb/>
vom Tode errettet, ich, das Weib; warum haben dieſe<lb/>
Emire weniger Macht als ich? Einſt war ich Meleka;<lb/>
jetzt bin ich nur ein altes Weib; aber dennoch hören<lb/>
Türken, Kurden und Chaldani meine Stimme. Auch ich<lb/>
habe heut um Mitternacht das Chriſtentum verkündet,<lb/>
aber nicht das Chriſtentum des Wortes, über deſſen Sinn<lb/>
die Abgefallenen ſtreiten, ſondern das Chriſtentum der<lb/>
That, daran niemand zweifeln kann. Züchtigt die Böſen, und<lb/>ſie werden es euch ſpäter danken, während die Guten, die<lb/>ſich nach Erlöſung ſehnen, euer Nahen mit Freudigkeit<lb/>
begrüßen werden. Sendet nicht Boten, die wie einzelne<lb/>
Funken im Meere verlöſchen, ſondern ſendet Männer,<lb/>
vor denen ſich der Unterdrücker fürchtet; dann werden die<lb/>
Berge jauchzen und die Thäler jubilieren; das Land wird<lb/>
Segen bringen zu jeder Zeit, und es wird das Wort von<lb/><hirendition="#g">einem</hi> Hirten und <hirendition="#g">einer</hi> Herde ſich erfüllen. Hat nicht<lb/>
dieſer <hirendition="#g">eine</hi> Hirt bereits ſeinen Statthalter auf Erden?<lb/>
Warum wendet ihr ſelbſt euch von ihm weg? Kehrt zu<lb/>
ihm zurück; dann ſeid ihr einig, und die Macht deſſen,<lb/>
der euch ſendet, wird die Erde zu dem Belad el Kuds <noteplace="foot"n="*)">Heiligen Lande.</note><lb/>
machen, in dem Milch und Honig fließt!“</p><lb/><p>Sie hatte während ihrer Rede ſich erhoben. Ihre<lb/>
vorher gebeugte Geſtalt ſtand aufrecht vor mir; in ihren<lb/></p></div></body></text></TEI>
[634/0648]
uns erblickſt, hat Hunderte von Leichen mit ſich fort-
geriſſen. Und warum? Frage die Emire des Glaubens,
die dort hinter den Bergen von Karitha und Tura
Schina wohnten; frage die Scheiks der chriſtlichen Fürſten,
die bei den Statthaltern des Sultans waren und dies
alles ruhig geſchehen ließen! Hat nicht jeder chriſtliche
Sultan und Schah das Recht und die Pflicht, die Chriſten
zu ſchützen, ſie mögen ſich befinden, wo es nur immer ſei?
Ich habe heut um Mitternacht die Chriſten dieſes Thales
vom Tode errettet, ich, das Weib; warum haben dieſe
Emire weniger Macht als ich? Einſt war ich Meleka;
jetzt bin ich nur ein altes Weib; aber dennoch hören
Türken, Kurden und Chaldani meine Stimme. Auch ich
habe heut um Mitternacht das Chriſtentum verkündet,
aber nicht das Chriſtentum des Wortes, über deſſen Sinn
die Abgefallenen ſtreiten, ſondern das Chriſtentum der
That, daran niemand zweifeln kann. Züchtigt die Böſen, und
ſie werden es euch ſpäter danken, während die Guten, die
ſich nach Erlöſung ſehnen, euer Nahen mit Freudigkeit
begrüßen werden. Sendet nicht Boten, die wie einzelne
Funken im Meere verlöſchen, ſondern ſendet Männer,
vor denen ſich der Unterdrücker fürchtet; dann werden die
Berge jauchzen und die Thäler jubilieren; das Land wird
Segen bringen zu jeder Zeit, und es wird das Wort von
einem Hirten und einer Herde ſich erfüllen. Hat nicht
dieſer eine Hirt bereits ſeinen Statthalter auf Erden?
Warum wendet ihr ſelbſt euch von ihm weg? Kehrt zu
ihm zurück; dann ſeid ihr einig, und die Macht deſſen,
der euch ſendet, wird die Erde zu dem Belad el Kuds *)
machen, in dem Milch und Honig fließt!“
Sie hatte während ihrer Rede ſich erhoben. Ihre
vorher gebeugte Geſtalt ſtand aufrecht vor mir; in ihren
*) Heiligen Lande.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 634. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/648>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.