"Mara Durimeh, ich habe noch keinem gesagt, wes- halb ich die Heimat immer wieder verlasse; du aber sollst es hören."
"Weiß es auch in deiner Heimat niemand?"
"Nein. Ich bin dort ein unbekannter, einsamer Mann; aber diese Einsamkeit thut meinem Herzen wohl."
"Mein Sohn, du bist noch jung. Hat dir Allah bereits solches Leid beschert, daß deine Seele einwärts geht?"
"Das ist es nicht, sondern es ist das, was dich noch leben läßt," erwiderte ich.
"Erkläre es mir!" sagte sie.
"Wer in der Wüste schmachtet, der lernt den Wert des Tropfens erkennen, der dem Dürstenden das Leben rettet. Und auf wem das Gewicht des Leides und der Sorge lastete, ohne daß eine Hand sich helfend ihm ent- gegenstreckte, der weiß, wie köstlich die Liebe ist, nach der er sich vergebens sehnte. Und doch ist mein ganzes Herz erfüllt von dem, was ich nicht fand, von jener Liebe, die den Sohn des Vaters auf die Erde trieb, um ihr die frohe Botschaft zu verkünden, daß alle Menschen Brü- der sind und Kinder eines Vaters. Und wie der Heiland aus den Höhen, wohin kein Sterblicher dringen kann, auf die kleine Erde herniederstieg, so gehen nun seine Boten hinaus in alle Welt, um das Evangelium der Liebe zu verkündigen allen, die noch in Finsternis wandeln. Das sind die Emire des Christentums, die Helden des Glau- bens, die Meleks der Barmherzigkeit."
"Aber nicht alle lehren das, was du jetzt gesprochen hast. Es giebt Sendlinge, die die Boten des echten Glaubens verfolgen. Siehe dieses Land an, über dem jetzt die Sonne leuchtet. Dieselbe Sonne hat Tausende hier sterben sehen, und derselbe Fluß, den du hier vor
„Mara Durimeh, ich habe noch keinem geſagt, wes- halb ich die Heimat immer wieder verlaſſe; du aber ſollſt es hören.“
„Weiß es auch in deiner Heimat niemand?“
„Nein. Ich bin dort ein unbekannter, einſamer Mann; aber dieſe Einſamkeit thut meinem Herzen wohl.“
„Mein Sohn, du biſt noch jung. Hat dir Allah bereits ſolches Leid beſchert, daß deine Seele einwärts geht?“
„Das iſt es nicht, ſondern es iſt das, was dich noch leben läßt,“ erwiderte ich.
„Erkläre es mir!“ ſagte ſie.
„Wer in der Wüſte ſchmachtet, der lernt den Wert des Tropfens erkennen, der dem Dürſtenden das Leben rettet. Und auf wem das Gewicht des Leides und der Sorge laſtete, ohne daß eine Hand ſich helfend ihm ent- gegenſtreckte, der weiß, wie köſtlich die Liebe iſt, nach der er ſich vergebens ſehnte. Und doch iſt mein ganzes Herz erfüllt von dem, was ich nicht fand, von jener Liebe, die den Sohn des Vaters auf die Erde trieb, um ihr die frohe Botſchaft zu verkünden, daß alle Menſchen Brü- der ſind und Kinder eines Vaters. Und wie der Heiland aus den Höhen, wohin kein Sterblicher dringen kann, auf die kleine Erde herniederſtieg, ſo gehen nun ſeine Boten hinaus in alle Welt, um das Evangelium der Liebe zu verkündigen allen, die noch in Finſternis wandeln. Das ſind die Emire des Chriſtentums, die Helden des Glau- bens, die Meleks der Barmherzigkeit.“
„Aber nicht alle lehren das, was du jetzt geſprochen haſt. Es giebt Sendlinge, die die Boten des echten Glaubens verfolgen. Siehe dieſes Land an, über dem jetzt die Sonne leuchtet. Dieſelbe Sonne hat Tauſende hier ſterben ſehen, und derſelbe Fluß, den du hier vor
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„Mara Durimeh, ich habe noch keinem geſagt, wes-
halb ich die Heimat immer wieder verlaſſe; du aber ſollſt
es hören.“
„Weiß es auch in deiner Heimat niemand?“
„Nein. Ich bin dort ein unbekannter, einſamer
Mann; aber dieſe Einſamkeit thut meinem Herzen wohl.“
„Mein Sohn, du biſt noch jung. Hat dir Allah
bereits ſolches Leid beſchert, daß deine Seele einwärts
geht?“
„Das iſt es nicht, ſondern es iſt das, was dich noch
leben läßt,“ erwiderte ich.
„Erkläre es mir!“ ſagte ſie.
„Wer in der Wüſte ſchmachtet, der lernt den Wert
des Tropfens erkennen, der dem Dürſtenden das Leben
rettet. Und auf wem das Gewicht des Leides und der
Sorge laſtete, ohne daß eine Hand ſich helfend ihm ent-
gegenſtreckte, der weiß, wie köſtlich die Liebe iſt, nach der
er ſich vergebens ſehnte. Und doch iſt mein ganzes Herz
erfüllt von dem, was ich nicht fand, von jener Liebe,
die den Sohn des Vaters auf die Erde trieb, um ihr
die frohe Botſchaft zu verkünden, daß alle Menſchen Brü-
der ſind und Kinder eines Vaters. Und wie der Heiland
aus den Höhen, wohin kein Sterblicher dringen kann, auf
die kleine Erde herniederſtieg, ſo gehen nun ſeine Boten
hinaus in alle Welt, um das Evangelium der Liebe zu
verkündigen allen, die noch in Finſternis wandeln. Das
ſind die Emire des Chriſtentums, die Helden des Glau-
bens, die Meleks der Barmherzigkeit.“
„Aber nicht alle lehren das, was du jetzt geſprochen
haſt. Es giebt Sendlinge, die die Boten des echten
Glaubens verfolgen. Siehe dieſes Land an, über dem
jetzt die Sonne leuchtet. Dieſelbe Sonne hat Tauſende
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 633. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/647>, abgerufen am 25.11.2024.
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