die segnend auf jene fallen, die der Barmherzigkeit des Vaters bedürftig sind. Die alte Marah Durimeh und der Ruh 'i kulyan sind dir ein Rätsel gewesen; sind sie es dir auch jetzt noch, mein Sohn?"
Ich konnte nicht anders, ich mußte ihre dürre Knochen- hand erfassen und an meine Lippen drücken.
"Ich verstehe dich!"
"Ich wußte es, daß es bei dir nur dieser Worte bedurfte; denn auch du ringst mit dem Leben, ringst mit den Menschen außer dir und mit dem Menschen in dir selbst."
Ich schaute rasch auf zu ihr. War sie mit der Gabe des Sehens begnadet? Wie kam es, daß ihr Auge so tief drang und so richtig blickte? Ich antwortete nicht, und sie fuhr nach einer Weile fragend fort:
"Du bist ein Emir in deinem Lande?"
"Nicht das, was bei euch ein Emir ist. Bei uns giebt es Emire der Geburt, Emire des Geldes, Emire des Wissens und Emire des Leidens, des Duldens und des Ringens."
"Zu welchen gehörest du?"
"Zu den letzteren."
Sie blickte mich lange forschend an; dann fragte sie:
"Bist du reich?"
"Ich bin arm."
"Arm an Gold und Silber, aber nicht arm an andern Gütern; denn dein Herz teilt Gaben aus, die andere er- freuen. Ich habe gehört, wie viele Freunde du dir er- worben hast, und auch mich hast du beglückt. Warum bleibst du nicht daheim; warum gehest du in ferne Länder? Man sagt, du wanderst, um mit deinen Waffen Thaten zu verrichten; aber dies ist nicht wahr, denn die Waffen töten, und du willst den Tod des Nächsten nicht."
die ſegnend auf jene fallen, die der Barmherzigkeit des Vaters bedürftig ſind. Die alte Marah Durimeh und der Ruh 'i kulyan ſind dir ein Rätſel geweſen; ſind ſie es dir auch jetzt noch, mein Sohn?“
Ich konnte nicht anders, ich mußte ihre dürre Knochen- hand erfaſſen und an meine Lippen drücken.
„Ich verſtehe dich!“
„Ich wußte es, daß es bei dir nur dieſer Worte bedurfte; denn auch du ringſt mit dem Leben, ringſt mit den Menſchen außer dir und mit dem Menſchen in dir ſelbſt.“
Ich ſchaute raſch auf zu ihr. War ſie mit der Gabe des Sehens begnadet? Wie kam es, daß ihr Auge ſo tief drang und ſo richtig blickte? Ich antwortete nicht, und ſie fuhr nach einer Weile fragend fort:
„Du biſt ein Emir in deinem Lande?“
„Nicht das, was bei euch ein Emir iſt. Bei uns giebt es Emire der Geburt, Emire des Geldes, Emire des Wiſſens und Emire des Leidens, des Duldens und des Ringens.“
„Zu welchen gehöreſt du?“
„Zu den letzteren.“
Sie blickte mich lange forſchend an; dann fragte ſie:
„Biſt du reich?“
„Ich bin arm.“
„Arm an Gold und Silber, aber nicht arm an andern Gütern; denn dein Herz teilt Gaben aus, die andere er- freuen. Ich habe gehört, wie viele Freunde du dir er- worben haſt, und auch mich haſt du beglückt. Warum bleibſt du nicht daheim; warum geheſt du in ferne Länder? Man ſagt, du wanderſt, um mit deinen Waffen Thaten zu verrichten; aber dies iſt nicht wahr, denn die Waffen töten, und du willſt den Tod des Nächſten nicht.“
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die ſegnend auf jene fallen, die der Barmherzigkeit des
Vaters bedürftig ſind. Die alte Marah Durimeh und
der Ruh 'i kulyan ſind dir ein Rätſel geweſen; ſind ſie
es dir auch jetzt noch, mein Sohn?“
Ich konnte nicht anders, ich mußte ihre dürre Knochen-
hand erfaſſen und an meine Lippen drücken.
„Ich verſtehe dich!“
„Ich wußte es, daß es bei dir nur dieſer Worte
bedurfte; denn auch du ringſt mit dem Leben, ringſt mit
den Menſchen außer dir und mit dem Menſchen in dir
ſelbſt.“
Ich ſchaute raſch auf zu ihr. War ſie mit der Gabe
des Sehens begnadet? Wie kam es, daß ihr Auge ſo tief
drang und ſo richtig blickte? Ich antwortete nicht, und
ſie fuhr nach einer Weile fragend fort:
„Du biſt ein Emir in deinem Lande?“
„Nicht das, was bei euch ein Emir iſt. Bei uns
giebt es Emire der Geburt, Emire des Geldes, Emire des
Wiſſens und Emire des Leidens, des Duldens und des
Ringens.“
„Zu welchen gehöreſt du?“
„Zu den letzteren.“
Sie blickte mich lange forſchend an; dann fragte ſie:
„Biſt du reich?“
„Ich bin arm.“
„Arm an Gold und Silber, aber nicht arm an andern
Gütern; denn dein Herz teilt Gaben aus, die andere er-
freuen. Ich habe gehört, wie viele Freunde du dir er-
worben haſt, und auch mich haſt du beglückt. Warum
bleibſt du nicht daheim; warum geheſt du in ferne Länder?
Man ſagt, du wanderſt, um mit deinen Waffen Thaten
zu verrichten; aber dies iſt nicht wahr, denn die Waffen
töten, und du willſt den Tod des Nächſten nicht.“
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 632. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/646>, abgerufen am 25.11.2024.
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