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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

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eher erreichen, als wenn wir die Höhen mühsam erklettern.
Du reitest mit, Herr?"

"Ja, obgleich ich nicht mit zum Geiste gehen werde."

"Was aber soll mit Nedschir-Bey geschehen?"

Der Genannte wartete meine Antwort gar nicht ab,
sondern sagte tückisch:

"Ich gehe nicht mit; ich bleibe hier!"

"Du hast gehört, daß dich der Ruh 'i kulyan ver-
langt," warnte ihn der Melek mit ernster Stimme.

"Was dieser Fremde sagt, brauche ich nicht zu be-
achten!"

"So willst du dem Geiste nicht gehorchen?"

"Ich gehorche ihm, aber nicht, wenn er mir diesen
Franken schickt!"

"Aber ich befehle es dir!"

"Melek, ich bin Nedschir-Bey, der Rais von Schohrd;
du hast mir nichts zu befehlen!"

Der Melek sah mich fragend an, darum wandte ich
mich zu meinem kleinen Hadschi Halef Omar:

"Halef, hast du gesehen, ob es hier Stricke giebt?"

"Siehe, dort im Winkel liegen genug, Herr," ant-
wortete er.

"Nimm davon und komm!"

Der kleine Hadschi merkte, was geschehen solle. Er
versetzte dem Rais, der ihm in der Richtung stand, einen
nicht sehr freundschaftlichen Rippenstoß und nahm dann
die aus Leff *) gearbeiteten Stricke vom Boden auf. Ich
aber erklärte dem Melek:

"Will er nicht mit, so wird er gezwungen. Wir
binden ihn auf das Pferd, so daß er sich nicht bewegen
kann."

"Versucht es," drohte der Rais. "Wer mir nahe

*) Dattelfaser.

eher erreichen, als wenn wir die Höhen mühſam erklettern.
Du reiteſt mit, Herr?“

„Ja, obgleich ich nicht mit zum Geiſte gehen werde.“

„Was aber ſoll mit Nedſchir-Bey geſchehen?“

Der Genannte wartete meine Antwort gar nicht ab,
ſondern ſagte tückiſch:

„Ich gehe nicht mit; ich bleibe hier!“

„Du haſt gehört, daß dich der Ruh 'i kulyan ver-
langt,“ warnte ihn der Melek mit ernſter Stimme.

„Was dieſer Fremde ſagt, brauche ich nicht zu be-
achten!“

„So willſt du dem Geiſte nicht gehorchen?“

„Ich gehorche ihm, aber nicht, wenn er mir dieſen
Franken ſchickt!“

„Aber ich befehle es dir!“

„Melek, ich bin Nedſchir-Bey, der Raïs von Schohrd;
du haſt mir nichts zu befehlen!“

Der Melek ſah mich fragend an, darum wandte ich
mich zu meinem kleinen Hadſchi Halef Omar:

„Halef, haſt du geſehen, ob es hier Stricke giebt?“

„Siehe, dort im Winkel liegen genug, Herr,“ ant-
wortete er.

„Nimm davon und komm!“

Der kleine Hadſchi merkte, was geſchehen ſolle. Er
verſetzte dem Raïs, der ihm in der Richtung ſtand, einen
nicht ſehr freundſchaftlichen Rippenſtoß und nahm dann
die aus Leff *) gearbeiteten Stricke vom Boden auf. Ich
aber erklärte dem Melek:

„Will er nicht mit, ſo wird er gezwungen. Wir
binden ihn auf das Pferd, ſo daß er ſich nicht bewegen
kann.“

„Verſucht es,“ drohte der Raïs. „Wer mir nahe

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[608/0622] eher erreichen, als wenn wir die Höhen mühſam erklettern. Du reiteſt mit, Herr?“ „Ja, obgleich ich nicht mit zum Geiſte gehen werde.“ „Was aber ſoll mit Nedſchir-Bey geſchehen?“ Der Genannte wartete meine Antwort gar nicht ab, ſondern ſagte tückiſch: „Ich gehe nicht mit; ich bleibe hier!“ „Du haſt gehört, daß dich der Ruh 'i kulyan ver- langt,“ warnte ihn der Melek mit ernſter Stimme. „Was dieſer Fremde ſagt, brauche ich nicht zu be- achten!“ „So willſt du dem Geiſte nicht gehorchen?“ „Ich gehorche ihm, aber nicht, wenn er mir dieſen Franken ſchickt!“ „Aber ich befehle es dir!“ „Melek, ich bin Nedſchir-Bey, der Raïs von Schohrd; du haſt mir nichts zu befehlen!“ Der Melek ſah mich fragend an, darum wandte ich mich zu meinem kleinen Hadſchi Halef Omar: „Halef, haſt du geſehen, ob es hier Stricke giebt?“ „Siehe, dort im Winkel liegen genug, Herr,“ ant- wortete er. „Nimm davon und komm!“ Der kleine Hadſchi merkte, was geſchehen ſolle. Er verſetzte dem Raïs, der ihm in der Richtung ſtand, einen nicht ſehr freundſchaftlichen Rippenſtoß und nahm dann die aus Leff *) gearbeiteten Stricke vom Boden auf. Ich aber erklärte dem Melek: „Will er nicht mit, ſo wird er gezwungen. Wir binden ihn auf das Pferd, ſo daß er ſich nicht bewegen kann.“ „Verſucht es,“ drohte der Raïs. „Wer mir nahe *) Dattelfaſer.

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Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 608. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/622>, abgerufen am 25.11.2024.