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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

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"Er ist nicht unsichtbar."

"Hast du ihn gesehen?"

"Ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen."

"Und du bist nicht sofort gestorben?"

"Wie du siehst, lebe ich noch."

"Ja, ihr Emire aus Frankistan wißt, wie man mit
Geistern zu verkehren hat!"

"Giebt es hier nicht viele Leute, die bei dem Ruh
'i kulyan gewesen sind, ohne darauf sterben zu müssen?"

"Sie haben zu ihm gesprochen, aber sie haben ihn
nicht gesehen."

"Ich habe dir nicht gesagt, daß du ihn sehen wirst.
Er hat befohlen, daß der Melek, du und Nedschir-Bey
sofort zur Höhle kommen sollt. Willst du diesem Befehle
ungehorsam sein? Auch der Melek wird dahin kommen!"

"Dann gehe auch ich mit."

"Das wußte ich. Aber wirst du dabei nicht ver-
gessen, daß du der Gefangene des Melek bist?"

"Glaubt er, daß ich ihm entfliehe?"

"Er muß vorsichtig sein. Willst du ihm versprechen,
keinen Fluchtversuch zu machen, und giebst du ihm dein
Wort, freiwillig wieder hierher zurückzukehren?"

"Ich gebe ihm mein Wort."

"Reiche ihm die Hand!"

Er that dies, und der Melek versicherte ihm:

"Bey, ich vertraue dir und werde dich nicht bewachen,
obgleich mir der Besitz deiner Person jetzt wichtiger ist,
als große Schätze. Wir werden nicht gehen, sondern
reiten, und du sollst frei auf deinem Pferde sein."

"Reiten?" fragte ich. "Ist dies nicht unmöglich bei
diesem Wege?"

"Es giebt einen Umweg," antwortete er, "der zwar
länger ist, auf dem wir aber zu Pferde die Höhle

„Er iſt nicht unſichtbar.“

„Haſt du ihn geſehen?“

„Ich habe ihn geſehen und mit ihm geſprochen.“

„Und du biſt nicht ſofort geſtorben?“

„Wie du ſiehſt, lebe ich noch.“

„Ja, ihr Emire aus Frankiſtan wißt, wie man mit
Geiſtern zu verkehren hat!“

„Giebt es hier nicht viele Leute, die bei dem Ruh
'i kulyan geweſen ſind, ohne darauf ſterben zu müſſen?“

„Sie haben zu ihm geſprochen, aber ſie haben ihn
nicht geſehen.“

„Ich habe dir nicht geſagt, daß du ihn ſehen wirſt.
Er hat befohlen, daß der Melek, du und Nedſchir-Bey
ſofort zur Höhle kommen ſollt. Willſt du dieſem Befehle
ungehorſam ſein? Auch der Melek wird dahin kommen!“

„Dann gehe auch ich mit.“

„Das wußte ich. Aber wirſt du dabei nicht ver-
geſſen, daß du der Gefangene des Melek biſt?“

„Glaubt er, daß ich ihm entfliehe?“

„Er muß vorſichtig ſein. Willſt du ihm verſprechen,
keinen Fluchtverſuch zu machen, und giebſt du ihm dein
Wort, freiwillig wieder hierher zurückzukehren?“

„Ich gebe ihm mein Wort.“

„Reiche ihm die Hand!“

Er that dies, und der Melek verſicherte ihm:

„Bey, ich vertraue dir und werde dich nicht bewachen,
obgleich mir der Beſitz deiner Perſon jetzt wichtiger iſt,
als große Schätze. Wir werden nicht gehen, ſondern
reiten, und du ſollſt frei auf deinem Pferde ſein.“

„Reiten?“ fragte ich. „Iſt dies nicht unmöglich bei
dieſem Wege?“

„Es giebt einen Umweg,“ antwortete er, „der zwar
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[607/0621] „Er iſt nicht unſichtbar.“ „Haſt du ihn geſehen?“ „Ich habe ihn geſehen und mit ihm geſprochen.“ „Und du biſt nicht ſofort geſtorben?“ „Wie du ſiehſt, lebe ich noch.“ „Ja, ihr Emire aus Frankiſtan wißt, wie man mit Geiſtern zu verkehren hat!“ „Giebt es hier nicht viele Leute, die bei dem Ruh 'i kulyan geweſen ſind, ohne darauf ſterben zu müſſen?“ „Sie haben zu ihm geſprochen, aber ſie haben ihn nicht geſehen.“ „Ich habe dir nicht geſagt, daß du ihn ſehen wirſt. Er hat befohlen, daß der Melek, du und Nedſchir-Bey ſofort zur Höhle kommen ſollt. Willſt du dieſem Befehle ungehorſam ſein? Auch der Melek wird dahin kommen!“ „Dann gehe auch ich mit.“ „Das wußte ich. Aber wirſt du dabei nicht ver- geſſen, daß du der Gefangene des Melek biſt?“ „Glaubt er, daß ich ihm entfliehe?“ „Er muß vorſichtig ſein. Willſt du ihm verſprechen, keinen Fluchtverſuch zu machen, und giebſt du ihm dein Wort, freiwillig wieder hierher zurückzukehren?“ „Ich gebe ihm mein Wort.“ „Reiche ihm die Hand!“ Er that dies, und der Melek verſicherte ihm: „Bey, ich vertraue dir und werde dich nicht bewachen, obgleich mir der Beſitz deiner Perſon jetzt wichtiger iſt, als große Schätze. Wir werden nicht gehen, ſondern reiten, und du ſollſt frei auf deinem Pferde ſein.“ „Reiten?“ fragte ich. „Iſt dies nicht unmöglich bei dieſem Wege?“ „Es giebt einen Umweg,“ antwortete er, „der zwar länger iſt, auf dem wir aber zu Pferde die Höhle

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Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 607. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/621>, abgerufen am 25.11.2024.