mein Herz erweicht, daß es Gedanken des Friedens hegte gegen diese Leute. Nun aber haben sie sich an dir ver- griffen, und darum mag das Messer zwischen mir und ihnen reden."
"Bedenke, daß du ihr Gefangener bist!" warf ich ein.
"Meine Berwari werden kommen und mich befreien," antwortete er stolz.
"Sie sind ja bereits da, aber sie sind zu schwach an Zahl."
"Es sind noch viele Tausend hinter ihnen."
"Wenn diese kommen, so ist es um dich geschehen. Sie würden dich nur als Leiche finden. Du bist als Geisel hier und wirst den Angriff deiner Leute mit dem Leben bezahlen müssen."
"So sterbe ich. Allah hat alles im Buche verzeichnet, was dem Gläubigen geschehen soll. Kein Mensch kann sein Kismet *) ändern."
"Bedenke, daß der Melek mein Gastfreund ist! Er hat nicht gewollt, daß mir Uebles geschehe, und nur der Rais ist es gewesen, der ohne Wissen der übrigen feind- lich gegen uns gehandelt hat."
"Wie bist du entkommen, Herr?"
"Frage den Ruh 'i kulyan!"
"Den Ruh 'i kulyan?" rief er verwundert. "War er bei dir?"
"Nein, ich war bei ihm, und er wünscht, daß auch du zu ihm kommst."
"Ich? Wann?" erkundigte er sich fast bestürzt.
"Sofort."
"Herr, du scherzest! Der Ruh 'i kulyan ist ein ge- waltiger, mächtiger Geist, und ich bin nichts als ein armer Oelidschi **), der vor dem Unsichtbaren zittern muß."
*) Vorherbestimmung.
**) Sterblicher.
mein Herz erweicht, daß es Gedanken des Friedens hegte gegen dieſe Leute. Nun aber haben ſie ſich an dir ver- griffen, und darum mag das Meſſer zwiſchen mir und ihnen reden.“
„Bedenke, daß du ihr Gefangener biſt!“ warf ich ein.
„Meine Berwari werden kommen und mich befreien,“ antwortete er ſtolz.
„Sie ſind ja bereits da, aber ſie ſind zu ſchwach an Zahl.“
„Es ſind noch viele Tauſend hinter ihnen.“
„Wenn dieſe kommen, ſo iſt es um dich geſchehen. Sie würden dich nur als Leiche finden. Du biſt als Geiſel hier und wirſt den Angriff deiner Leute mit dem Leben bezahlen müſſen.“
„So ſterbe ich. Allah hat alles im Buche verzeichnet, was dem Gläubigen geſchehen ſoll. Kein Menſch kann ſein Kismét *) ändern.“
„Bedenke, daß der Melek mein Gaſtfreund iſt! Er hat nicht gewollt, daß mir Uebles geſchehe, und nur der Raïs iſt es geweſen, der ohne Wiſſen der übrigen feind- lich gegen uns gehandelt hat.“
„Wie biſt du entkommen, Herr?“
„Frage den Ruh 'i kulyan!“
„Den Ruh 'i kulyan?“ rief er verwundert. „War er bei dir?“
„Nein, ich war bei ihm, und er wünſcht, daß auch du zu ihm kommſt.“
„Ich? Wann?“ erkundigte er ſich faſt beſtürzt.
„Sofort.“
„Herr, du ſcherzeſt! Der Ruh 'i kulyan iſt ein ge- waltiger, mächtiger Geiſt, und ich bin nichts als ein armer Oelidſchi **), der vor dem Unſichtbaren zittern muß.“
*) Vorherbeſtimmung.
**) Sterblicher.
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mein Herz erweicht, daß es Gedanken des Friedens hegte
gegen dieſe Leute. Nun aber haben ſie ſich an dir ver-
griffen, und darum mag das Meſſer zwiſchen mir und
ihnen reden.“
„Bedenke, daß du ihr Gefangener biſt!“ warf ich ein.
„Meine Berwari werden kommen und mich befreien,“
antwortete er ſtolz.
„Sie ſind ja bereits da, aber ſie ſind zu ſchwach
an Zahl.“
„Es ſind noch viele Tauſend hinter ihnen.“
„Wenn dieſe kommen, ſo iſt es um dich geſchehen.
Sie würden dich nur als Leiche finden. Du biſt als
Geiſel hier und wirſt den Angriff deiner Leute mit dem
Leben bezahlen müſſen.“
„So ſterbe ich. Allah hat alles im Buche verzeichnet,
was dem Gläubigen geſchehen ſoll. Kein Menſch kann
ſein Kismét *) ändern.“
„Bedenke, daß der Melek mein Gaſtfreund iſt! Er
hat nicht gewollt, daß mir Uebles geſchehe, und nur der
Raïs iſt es geweſen, der ohne Wiſſen der übrigen feind-
lich gegen uns gehandelt hat.“
„Wie biſt du entkommen, Herr?“
„Frage den Ruh 'i kulyan!“
„Den Ruh 'i kulyan?“ rief er verwundert. „War
er bei dir?“
„Nein, ich war bei ihm, und er wünſcht, daß auch
du zu ihm kommſt.“
„Ich? Wann?“ erkundigte er ſich faſt beſtürzt.
„Sofort.“
„Herr, du ſcherzeſt! Der Ruh 'i kulyan iſt ein ge-
waltiger, mächtiger Geiſt, und ich bin nichts als ein
armer Oelidſchi **), der vor dem Unſichtbaren zittern muß.“
*) Vorherbeſtimmung.
**) Sterblicher.
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 606. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/620>, abgerufen am 25.11.2024.
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