Dieser Ruf genügte. Ich ging voran, das Ende der Schnur in der Hand haltend, und der Gefangene folgte ohne Zögern. Als die Thür geschlossen war, erhob sich draußen ein tosendes, hundertstimmiges Murmeln: die Menge suchte sich den für sie noch geheimnisvollen Vorgang zu erklären. Drinnen trat uns der Melek ent- gegen. Als er mich erblickte, stieß er einen Ruf der leb- haftesten Freude aus und streckte mir beide Hände ent- gegen.
"Emir, was sehe ich! Du bist wieder zurück? Heil und unverletzt? Und hier -- -- ah, Nedschir-Bey! Gefangen!"
"Ja. Kommt herein, und laßt euch erklären!"
Wir traten in den größten Raum des Erdgeschosses, wo Platz für uns alle war. Hier ließen sie sich erwar- tungsvoll auf die Matten nieder, während der Rais stehen mußte; seine Leine hatte der Hund zwischen den Zähnen, der bei der geringsten Bewegung des Gefangenen ein drohendes Knurren ausstieß.
"Wie ich in die Hände des Rais von Schohrd ge- raten bin, und wie man mich behandelt hat, das hat euch wohl hier Halef ausführlich erzählt?" fragte ich.
"Ja," erklang es im Kreise.
"So brauche ich es nicht zu wiederholen und -- -- --"
"O doch, Emir, erzähle es noch einmal selbst!" unter- brach mich der Melek.
"Später. Jetzt haben wir keine Zeit dazu, denn es giebt sehr Notwendiges zu thun."
"Wie wurdest du frei, und wie ward der Rais selbst dein Gefangener?"
"Auch das sollt ihr später ausführlich hören. Der Rais hat die ganze Gegend aufgestachelt, sich morgen früh
„Dojan, paß auf!“
Dieſer Ruf genügte. Ich ging voran, das Ende der Schnur in der Hand haltend, und der Gefangene folgte ohne Zögern. Als die Thür geſchloſſen war, erhob ſich draußen ein toſendes, hundertſtimmiges Murmeln: die Menge ſuchte ſich den für ſie noch geheimnisvollen Vorgang zu erklären. Drinnen trat uns der Melek ent- gegen. Als er mich erblickte, ſtieß er einen Ruf der leb- hafteſten Freude aus und ſtreckte mir beide Hände ent- gegen.
„Emir, was ſehe ich! Du biſt wieder zurück? Heil und unverletzt? Und hier — — ah, Nedſchir-Bey! Gefangen!“
„Ja. Kommt herein, und laßt euch erklären!“
Wir traten in den größten Raum des Erdgeſchoſſes, wo Platz für uns alle war. Hier ließen ſie ſich erwar- tungsvoll auf die Matten nieder, während der Raïs ſtehen mußte; ſeine Leine hatte der Hund zwiſchen den Zähnen, der bei der geringſten Bewegung des Gefangenen ein drohendes Knurren ausſtieß.
„Wie ich in die Hände des Raïs von Schohrd ge- raten bin, und wie man mich behandelt hat, das hat euch wohl hier Halef ausführlich erzählt?“ fragte ich.
„Ja,“ erklang es im Kreiſe.
„So brauche ich es nicht zu wiederholen und — — —“
„O doch, Emir, erzähle es noch einmal ſelbſt!“ unter- brach mich der Melek.
„Später. Jetzt haben wir keine Zeit dazu, denn es giebt ſehr Notwendiges zu thun.“
„Wie wurdeſt du frei, und wie ward der Raïs ſelbſt dein Gefangener?“
„Auch das ſollt ihr ſpäter ausführlich hören. Der Raïs hat die ganze Gegend aufgeſtachelt, ſich morgen früh
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[603/0617]
„Dojan, paß auf!“
Dieſer Ruf genügte. Ich ging voran, das Ende
der Schnur in der Hand haltend, und der Gefangene
folgte ohne Zögern. Als die Thür geſchloſſen war, erhob
ſich draußen ein toſendes, hundertſtimmiges Murmeln:
die Menge ſuchte ſich den für ſie noch geheimnisvollen
Vorgang zu erklären. Drinnen trat uns der Melek ent-
gegen. Als er mich erblickte, ſtieß er einen Ruf der leb-
hafteſten Freude aus und ſtreckte mir beide Hände ent-
gegen.
„Emir, was ſehe ich! Du biſt wieder zurück? Heil
und unverletzt? Und hier — — ah, Nedſchir-Bey!
Gefangen!“
„Ja. Kommt herein, und laßt euch erklären!“
Wir traten in den größten Raum des Erdgeſchoſſes,
wo Platz für uns alle war. Hier ließen ſie ſich erwar-
tungsvoll auf die Matten nieder, während der Raïs
ſtehen mußte; ſeine Leine hatte der Hund zwiſchen den
Zähnen, der bei der geringſten Bewegung des Gefangenen
ein drohendes Knurren ausſtieß.
„Wie ich in die Hände des Raïs von Schohrd ge-
raten bin, und wie man mich behandelt hat, das hat euch
wohl hier Halef ausführlich erzählt?“ fragte ich.
„Ja,“ erklang es im Kreiſe.
„So brauche ich es nicht zu wiederholen und — — —“
„O doch, Emir, erzähle es noch einmal ſelbſt!“ unter-
brach mich der Melek.
„Später. Jetzt haben wir keine Zeit dazu, denn es
giebt ſehr Notwendiges zu thun.“
„Wie wurdeſt du frei, und wie ward der Raïs ſelbſt
dein Gefangener?“
„Auch das ſollt ihr ſpäter ausführlich hören. Der
Raïs hat die ganze Gegend aufgeſtachelt, ſich morgen früh
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 603. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/617>, abgerufen am 25.11.2024.
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