"Der Scheitan wird dir eins geben. Morgen um diese Zeit bist du wieder gefangen!"
"Wollen sehen!"
Jetzt trat wieder Stille ein. Er trabte gezwungener Weise nebenher, der Hund hart an seinen Fersen, und bald sahen wir Lizan vor uns liegen.
Der Ort hatte sich während meiner Abwesenheit in ein Heerlager verwandelt. Drüben auf dem rechten Ufer des Zab herrschte vollständige Dunkelheit, hüben aber brannte Feuer an Feuer, an welchen zahlreiche Männer- gruppen lagen oder standen. Das größte Feuer brannte vor dem Hause des Melek, wie ich schon von weitem be- merkte. Um jeden unnützen Aufenthalt zu vermeiden, setzte ich mein Pferd in Trab; der Gefangene mußte gleich- falls traben. Dennoch erkannte man mich allenthalben.
"Der Fremde, der Fremde!" erscholl es, wo ich vor- über kam. Oder es ertönte der Ruf: "Nedschir-Bey! Und gefangen!"
Wir hatten bald ein zahlreiches Gefolge hinter uns, das sich Mühe gab, mit uns Schritt zu halten. So gelangten wir zum Hause des Melek. Hier waren wenig- stens sechzig Bewaffnete versammelt. Der erste, den ich er- blickte, war -- Sir David Lindsay, welcher behaglich an der Mauer lehnte. Als er mich sah, ging mit seinem gelangweilten Gesichte eine gewaltige Veränderung vor: -- die Stirn schob sich empor, und das Kinn fiel tief herunter, als sei es in Ohnmacht gesunken; der Mund öffnete sich, als solle ein ganzer Fowling-bull verschlungen werden, und die Nase richtete sich auf, wie der Hals eines Gemsbockes, wenn etwas Verdächtiges in den Wind kommt. Dann that der lange David einen herkulischen Sprung auf mich zu und fing mich, der ich soeben vom Pferde springen wollte, in seinen geöffneten Armen auf.
„Der Scheïtan wird dir eins geben. Morgen um dieſe Zeit biſt du wieder gefangen!“
„Wollen ſehen!“
Jetzt trat wieder Stille ein. Er trabte gezwungener Weiſe nebenher, der Hund hart an ſeinen Ferſen, und bald ſahen wir Lizan vor uns liegen.
Der Ort hatte ſich während meiner Abweſenheit in ein Heerlager verwandelt. Drüben auf dem rechten Ufer des Zab herrſchte vollſtändige Dunkelheit, hüben aber brannte Feuer an Feuer, an welchen zahlreiche Männer- gruppen lagen oder ſtanden. Das größte Feuer brannte vor dem Hauſe des Melek, wie ich ſchon von weitem be- merkte. Um jeden unnützen Aufenthalt zu vermeiden, ſetzte ich mein Pferd in Trab; der Gefangene mußte gleich- falls traben. Dennoch erkannte man mich allenthalben.
„Der Fremde, der Fremde!“ erſcholl es, wo ich vor- über kam. Oder es ertönte der Ruf: „Nedſchir-Bey! Und gefangen!“
Wir hatten bald ein zahlreiches Gefolge hinter uns, das ſich Mühe gab, mit uns Schritt zu halten. So gelangten wir zum Hauſe des Melek. Hier waren wenig- ſtens ſechzig Bewaffnete verſammelt. Der erſte, den ich er- blickte, war — Sir David Lindſay, welcher behaglich an der Mauer lehnte. Als er mich ſah, ging mit ſeinem gelangweilten Geſichte eine gewaltige Veränderung vor: — die Stirn ſchob ſich empor, und das Kinn fiel tief herunter, als ſei es in Ohnmacht geſunken; der Mund öffnete ſich, als ſolle ein ganzer Fowling-bull verſchlungen werden, und die Naſe richtete ſich auf, wie der Hals eines Gemsbockes, wenn etwas Verdächtiges in den Wind kommt. Dann that der lange David einen herkuliſchen Sprung auf mich zu und fing mich, der ich ſoeben vom Pferde ſpringen wollte, in ſeinen geöffneten Armen auf.
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„Der Scheïtan wird dir eins geben. Morgen um
dieſe Zeit biſt du wieder gefangen!“
„Wollen ſehen!“
Jetzt trat wieder Stille ein. Er trabte gezwungener
Weiſe nebenher, der Hund hart an ſeinen Ferſen, und
bald ſahen wir Lizan vor uns liegen.
Der Ort hatte ſich während meiner Abweſenheit in
ein Heerlager verwandelt. Drüben auf dem rechten Ufer
des Zab herrſchte vollſtändige Dunkelheit, hüben aber
brannte Feuer an Feuer, an welchen zahlreiche Männer-
gruppen lagen oder ſtanden. Das größte Feuer brannte
vor dem Hauſe des Melek, wie ich ſchon von weitem be-
merkte. Um jeden unnützen Aufenthalt zu vermeiden,
ſetzte ich mein Pferd in Trab; der Gefangene mußte gleich-
falls traben. Dennoch erkannte man mich allenthalben.
„Der Fremde, der Fremde!“ erſcholl es, wo ich vor-
über kam. Oder es ertönte der Ruf: „Nedſchir-Bey!
Und gefangen!“
Wir hatten bald ein zahlreiches Gefolge hinter uns,
das ſich Mühe gab, mit uns Schritt zu halten. So
gelangten wir zum Hauſe des Melek. Hier waren wenig-
ſtens ſechzig Bewaffnete verſammelt. Der erſte, den ich er-
blickte, war — Sir David Lindſay, welcher behaglich an
der Mauer lehnte. Als er mich ſah, ging mit ſeinem
gelangweilten Geſichte eine gewaltige Veränderung vor:
— die Stirn ſchob ſich empor, und das Kinn fiel tief
herunter, als ſei es in Ohnmacht geſunken; der Mund
öffnete ſich, als ſolle ein ganzer Fowling-bull verſchlungen
werden, und die Naſe richtete ſich auf, wie der Hals eines
Gemsbockes, wenn etwas Verdächtiges in den Wind kommt.
Dann that der lange David einen herkuliſchen Sprung
auf mich zu und fing mich, der ich ſoeben vom Pferde
ſpringen wollte, in ſeinen geöffneten Armen auf.
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 601. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/615>, abgerufen am 25.11.2024.
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