erzähle! Meine Macht ist größer, als du denkst; vielleicht ist es noch nicht zu spät."
Ich folgte ihrem Gebote, und sie lauschte mit an- gehaltenem Atem meiner Darstellung. Es war, als hätte ich den Tod neben mir sitzen, und doch hing von diesem skelettartigen, geheimnisvollen Wesen vielleicht das Leben von Hunderten ab. Kein Glied ihres Körpers bewegte sich, und keine Falte ihres Mantels zitterte; aber sofort, als ich geendet hatte, fuhr sie vom Steine empor.
"Emir, noch ist es Zeit. Willst du mir helfen?"
"Gern."
"Ich weiß, du mußt mir auch von dir erzählen, aber nicht jetzt, nicht jetzt, sondern morgen; jetzt giebt es Nötigeres zu thun. Der Geist der Höhle ist stumm ge- wesen; noch nie hat ihn jemand sprechen hören; heut aber wird er reden, heut muß er reden. Laß dich von Ing- dscha führen, Herr, und eile hinab nach Lizan. Der Melek, der Bey von Gumri und der Rais von Schohrd sollen sogleich zum Ruh 'i kulyan kommen."
"Werden sie gehorchen?"
"Sie gehorchen; sie müssen gehorchen, glaube es mir!"
"Aber der Rais ist nicht zu finden!"
"Emir, wenn ihn niemand findet, so wirst doch du ihn finden; ich kenne dich. Auch er muß kommen, ob gleichzeitig oder ob später als die beiden andern; wenn er nur bis zum Morgen erscheint. Ich werde warten."
"Sie werden mich fragen, von wem ich den Auftrag erhalten habe. Ich werde antworten: ,Vom Ruh 'i kulyan;' weiter kein Wort. Ist es so recht?"
"Ja. Sie brauchen nichts zu wissen, am aller- wenigsten aber, wer der Geist der Höhle eigentlich ist."
"Soll ich wieder mitkommen?"
"Du kannst sie begleiten, aber in die Höhle darfst du
erzähle! Meine Macht iſt größer, als du denkſt; vielleicht iſt es noch nicht zu ſpät.“
Ich folgte ihrem Gebote, und ſie lauſchte mit an- gehaltenem Atem meiner Darſtellung. Es war, als hätte ich den Tod neben mir ſitzen, und doch hing von dieſem ſkelettartigen, geheimnisvollen Weſen vielleicht das Leben von Hunderten ab. Kein Glied ihres Körpers bewegte ſich, und keine Falte ihres Mantels zitterte; aber ſofort, als ich geendet hatte, fuhr ſie vom Steine empor.
„Emir, noch iſt es Zeit. Willſt du mir helfen?“
„Gern.“
„Ich weiß, du mußt mir auch von dir erzählen, aber nicht jetzt, nicht jetzt, ſondern morgen; jetzt giebt es Nötigeres zu thun. Der Geiſt der Höhle iſt ſtumm ge- weſen; noch nie hat ihn jemand ſprechen hören; heut aber wird er reden, heut muß er reden. Laß dich von Ing- dſcha führen, Herr, und eile hinab nach Lizan. Der Melek, der Bey von Gumri und der Raïs von Schohrd ſollen ſogleich zum Ruh 'i kulyan kommen.“
„Werden ſie gehorchen?“
„Sie gehorchen; ſie müſſen gehorchen, glaube es mir!“
„Aber der Raïs iſt nicht zu finden!“
„Emir, wenn ihn niemand findet, ſo wirſt doch du ihn finden; ich kenne dich. Auch er muß kommen, ob gleichzeitig oder ob ſpäter als die beiden andern; wenn er nur bis zum Morgen erſcheint. Ich werde warten.“
„Sie werden mich fragen, von wem ich den Auftrag erhalten habe. Ich werde antworten: ‚Vom Ruh 'i kulyan;‘ weiter kein Wort. Iſt es ſo recht?“
„Ja. Sie brauchen nichts zu wiſſen, am aller- wenigſten aber, wer der Geiſt der Höhle eigentlich iſt.“
„Soll ich wieder mitkommen?“
„Du kannſt ſie begleiten, aber in die Höhle darfſt du
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erzähle! Meine Macht iſt größer, als du denkſt; vielleicht
iſt es noch nicht zu ſpät.“
Ich folgte ihrem Gebote, und ſie lauſchte mit an-
gehaltenem Atem meiner Darſtellung. Es war, als hätte
ich den Tod neben mir ſitzen, und doch hing von dieſem
ſkelettartigen, geheimnisvollen Weſen vielleicht das Leben
von Hunderten ab. Kein Glied ihres Körpers bewegte
ſich, und keine Falte ihres Mantels zitterte; aber ſofort,
als ich geendet hatte, fuhr ſie vom Steine empor.
„Emir, noch iſt es Zeit. Willſt du mir helfen?“
„Gern.“
„Ich weiß, du mußt mir auch von dir erzählen,
aber nicht jetzt, nicht jetzt, ſondern morgen; jetzt giebt es
Nötigeres zu thun. Der Geiſt der Höhle iſt ſtumm ge-
weſen; noch nie hat ihn jemand ſprechen hören; heut aber
wird er reden, heut muß er reden. Laß dich von Ing-
dſcha führen, Herr, und eile hinab nach Lizan. Der Melek,
der Bey von Gumri und der Raïs von Schohrd ſollen
ſogleich zum Ruh 'i kulyan kommen.“
„Werden ſie gehorchen?“
„Sie gehorchen; ſie müſſen gehorchen, glaube es mir!“
„Aber der Raïs iſt nicht zu finden!“
„Emir, wenn ihn niemand findet, ſo wirſt doch du
ihn finden; ich kenne dich. Auch er muß kommen, ob
gleichzeitig oder ob ſpäter als die beiden andern; wenn
er nur bis zum Morgen erſcheint. Ich werde warten.“
„Sie werden mich fragen, von wem ich den Auftrag
erhalten habe. Ich werde antworten: ‚Vom Ruh 'i
kulyan;‘ weiter kein Wort. Iſt es ſo recht?“
„Ja. Sie brauchen nichts zu wiſſen, am aller-
wenigſten aber, wer der Geiſt der Höhle eigentlich iſt.“
„Soll ich wieder mitkommen?“
„Du kannſt ſie begleiten, aber in die Höhle darfſt du
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 596. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/610>, abgerufen am 25.11.2024.
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