ihr die schneeweißen Haarzöpfe bis beinahe zur Erde herab. Sie leuchtete mich an.
"Ja wirklich, du bist es, Emir! Ich danke dir, daß du gekommen bist. Aber du darfst keinem Menschen sagen, wer der Geist der Höhle ist!"
"Ich schweige."
"Ist es ein Wunsch, der dich zu mir führt?"
"Ja. Aber er betrifft nicht mich, sondern die Chal- dani, die einem großen Unglücke entgegengehen, das nur du vielleicht von ihnen abzuwenden vermagst. Hast du Zeit, mich anzuhören?"
"Ja. Komm und setze dich."
In der Nähe lag ein langer, schmaler Stein, der Raum genug für zwei bot. Er bildete wohl stets die Ruhebank des Höhlengeistes. Wir ließen uns neben- einander darauf nieder, während das Licht auf einer Steinkante stand. Dann sagte die Alte mit besorgter Miene:
"Deine Worte verkünden Unheil. Rede, Herr!"
"Weißt du schon, daß der Melek von Lizan den Bey von Gumri überfallen und gefangen genommen hat?"
"Heilige Mutter Gottes, ist das wahr?" rief sie, sichtlich im höchsten Grade erschrocken.
"Ja. Ich selbst war dabei als Gast des Bey und wurde gefangen."
"Ich weiß nichts davon, kein Wort. Ich war wäh- rend der letzten Tage drüben in Hajschad und Biridschai und bin erst heut über die Berge gekommen."
"Nun halten die Berwari-Kurden da unten vor Lizan, um morgen den Kampf zu beginnen."
"O ihr Thoren, die ihr den Haß liebt und die Liebe haßt! Soll sich das Wasser wieder vom Blute röten und das Land vom Scheine der Flammen? Erzähle, Herr,
ihr die ſchneeweißen Haarzöpfe bis beinahe zur Erde herab. Sie leuchtete mich an.
„Ja wirklich, du biſt es, Emir! Ich danke dir, daß du gekommen biſt. Aber du darfſt keinem Menſchen ſagen, wer der Geiſt der Höhle iſt!“
„Ich ſchweige.“
„Iſt es ein Wunſch, der dich zu mir führt?“
„Ja. Aber er betrifft nicht mich, ſondern die Chal- dani, die einem großen Unglücke entgegengehen, das nur du vielleicht von ihnen abzuwenden vermagſt. Haſt du Zeit, mich anzuhören?“
„Ja. Komm und ſetze dich.“
In der Nähe lag ein langer, ſchmaler Stein, der Raum genug für zwei bot. Er bildete wohl ſtets die Ruhebank des Höhlengeiſtes. Wir ließen uns neben- einander darauf nieder, während das Licht auf einer Steinkante ſtand. Dann ſagte die Alte mit beſorgter Miene:
„Deine Worte verkünden Unheil. Rede, Herr!“
„Weißt du ſchon, daß der Melek von Lizan den Bey von Gumri überfallen und gefangen genommen hat?“
„Heilige Mutter Gottes, iſt das wahr?“ rief ſie, ſichtlich im höchſten Grade erſchrocken.
„Ja. Ich ſelbſt war dabei als Gaſt des Bey und wurde gefangen.“
„Ich weiß nichts davon, kein Wort. Ich war wäh- rend der letzten Tage drüben in Hajſchad und Biridſchai und bin erſt heut über die Berge gekommen.“
„Nun halten die Berwari-Kurden da unten vor Lizan, um morgen den Kampf zu beginnen.“
„O ihr Thoren, die ihr den Haß liebt und die Liebe haßt! Soll ſich das Waſſer wieder vom Blute röten und das Land vom Scheine der Flammen? Erzähle, Herr,
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ihr die ſchneeweißen Haarzöpfe bis beinahe zur Erde herab.
Sie leuchtete mich an.
„Ja wirklich, du biſt es, Emir! Ich danke dir, daß
du gekommen biſt. Aber du darfſt keinem Menſchen ſagen,
wer der Geiſt der Höhle iſt!“
„Ich ſchweige.“
„Iſt es ein Wunſch, der dich zu mir führt?“
„Ja. Aber er betrifft nicht mich, ſondern die Chal-
dani, die einem großen Unglücke entgegengehen, das
nur du vielleicht von ihnen abzuwenden vermagſt. Haſt
du Zeit, mich anzuhören?“
„Ja. Komm und ſetze dich.“
In der Nähe lag ein langer, ſchmaler Stein, der
Raum genug für zwei bot. Er bildete wohl ſtets die
Ruhebank des Höhlengeiſtes. Wir ließen uns neben-
einander darauf nieder, während das Licht auf einer
Steinkante ſtand. Dann ſagte die Alte mit beſorgter
Miene:
„Deine Worte verkünden Unheil. Rede, Herr!“
„Weißt du ſchon, daß der Melek von Lizan den Bey
von Gumri überfallen und gefangen genommen hat?“
„Heilige Mutter Gottes, iſt das wahr?“ rief ſie,
ſichtlich im höchſten Grade erſchrocken.
„Ja. Ich ſelbſt war dabei als Gaſt des Bey und
wurde gefangen.“
„Ich weiß nichts davon, kein Wort. Ich war wäh-
rend der letzten Tage drüben in Hajſchad und Biridſchai
und bin erſt heut über die Berge gekommen.“
„Nun halten die Berwari-Kurden da unten vor Lizan,
um morgen den Kampf zu beginnen.“
„O ihr Thoren, die ihr den Haß liebt und die Liebe
haßt! Soll ſich das Waſſer wieder vom Blute röten und
das Land vom Scheine der Flammen? Erzähle, Herr,
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 595. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/609>, abgerufen am 25.11.2024.
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