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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

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umhüllte. Freilich, den eigentlichen Kern dieses Geheim-
nisses ahnte ich bereits.

Ich langte vor der Felsenwand an und bemerkte die
Höhle, deren Eingang gerade so hoch und breit war, daß
ein Mann in aufrechter Haltung Zutritt nehmen konnte.
Ich lauschte einige Augenblicke, hörte aber nicht das min-
deste, und brannte dann eine der Kerzen an, die ich
auf den Boden der Höhle niederstellte. Das ging sehr
leicht, da die Kerze unten eine genügende Breite besaß.

Nun kehrte ich wieder zurück. Ich sagte mir, daß
für einen nicht Unbefangenen schon ein gut Teil Mut
dazu gehöre, in der Stunde der Mitternacht den Berg zu
besteigen, um mit einem Geiste in Verkehr zu treten.

"Das Licht brennt. Nun warte, ob es verlöschen
wird," sagte Ingdscha.

"Es geht nicht der leiseste Lufthauch; wenn das Licht
verlöscht, so ist es also ein sicheres Zeichen, daß der Ruh
zugegen ist."

"Sieh!" meinte das Mädchen, mich hastig am Arme
fassend. "Es ist verlöscht!"

"So gehe ich."

"Ich erwarte dich hier."

Als ich wieder an die Höhle kam, bückte ich mich
nieder, um nach dem Lichte zu fühlen -- es war weg-
genommen worden. Ich hegte die Ueberzeugung, daß der
Geist sich ganz nahe, vielleicht in einer Seitennische, be-
finde, um jedes Wort hören zu können. Ein anderer
hätte nun einfach seine Angelegenheit in akroamatischer
Weise vorgetragen und dann sich zurückgezogen; dies aber
lag nicht in meiner Absicht. Ich trat zwei Schritte in
die Höhle hinein.

"Ruh 'i kulyan!" rief ich halblaut.

Es erfolgte keine Antwort.

II. 38

umhüllte. Freilich, den eigentlichen Kern dieſes Geheim-
niſſes ahnte ich bereits.

Ich langte vor der Felſenwand an und bemerkte die
Höhle, deren Eingang gerade ſo hoch und breit war, daß
ein Mann in aufrechter Haltung Zutritt nehmen konnte.
Ich lauſchte einige Augenblicke, hörte aber nicht das min-
deſte, und brannte dann eine der Kerzen an, die ich
auf den Boden der Höhle niederſtellte. Das ging ſehr
leicht, da die Kerze unten eine genügende Breite beſaß.

Nun kehrte ich wieder zurück. Ich ſagte mir, daß
für einen nicht Unbefangenen ſchon ein gut Teil Mut
dazu gehöre, in der Stunde der Mitternacht den Berg zu
beſteigen, um mit einem Geiſte in Verkehr zu treten.

„Das Licht brennt. Nun warte, ob es verlöſchen
wird,“ ſagte Ingdſcha.

„Es geht nicht der leiſeſte Lufthauch; wenn das Licht
verlöſcht, ſo iſt es alſo ein ſicheres Zeichen, daß der Ruh
zugegen iſt.“

„Sieh!“ meinte das Mädchen, mich haſtig am Arme
faſſend. „Es iſt verlöſcht!“

„So gehe ich.“

„Ich erwarte dich hier.“

Als ich wieder an die Höhle kam, bückte ich mich
nieder, um nach dem Lichte zu fühlen — es war weg-
genommen worden. Ich hegte die Ueberzeugung, daß der
Geiſt ſich ganz nahe, vielleicht in einer Seitenniſche, be-
finde, um jedes Wort hören zu können. Ein anderer
hätte nun einfach ſeine Angelegenheit in akroamatiſcher
Weiſe vorgetragen und dann ſich zurückgezogen; dies aber
lag nicht in meiner Abſicht. Ich trat zwei Schritte in
die Höhle hinein.

„Ruh 'i kulyan!“ rief ich halblaut.

Es erfolgte keine Antwort.

II. 38
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[593/0607] umhüllte. Freilich, den eigentlichen Kern dieſes Geheim- niſſes ahnte ich bereits. Ich langte vor der Felſenwand an und bemerkte die Höhle, deren Eingang gerade ſo hoch und breit war, daß ein Mann in aufrechter Haltung Zutritt nehmen konnte. Ich lauſchte einige Augenblicke, hörte aber nicht das min- deſte, und brannte dann eine der Kerzen an, die ich auf den Boden der Höhle niederſtellte. Das ging ſehr leicht, da die Kerze unten eine genügende Breite beſaß. Nun kehrte ich wieder zurück. Ich ſagte mir, daß für einen nicht Unbefangenen ſchon ein gut Teil Mut dazu gehöre, in der Stunde der Mitternacht den Berg zu beſteigen, um mit einem Geiſte in Verkehr zu treten. „Das Licht brennt. Nun warte, ob es verlöſchen wird,“ ſagte Ingdſcha. „Es geht nicht der leiſeſte Lufthauch; wenn das Licht verlöſcht, ſo iſt es alſo ein ſicheres Zeichen, daß der Ruh zugegen iſt.“ „Sieh!“ meinte das Mädchen, mich haſtig am Arme faſſend. „Es iſt verlöſcht!“ „So gehe ich.“ „Ich erwarte dich hier.“ Als ich wieder an die Höhle kam, bückte ich mich nieder, um nach dem Lichte zu fühlen — es war weg- genommen worden. Ich hegte die Ueberzeugung, daß der Geiſt ſich ganz nahe, vielleicht in einer Seitenniſche, be- finde, um jedes Wort hören zu können. Ein anderer hätte nun einfach ſeine Angelegenheit in akroamatiſcher Weiſe vorgetragen und dann ſich zurückgezogen; dies aber lag nicht in meiner Abſicht. Ich trat zwei Schritte in die Höhle hinein. „Ruh 'i kulyan!“ rief ich halblaut. Es erfolgte keine Antwort. II. 38

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Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 593. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/607>, abgerufen am 25.11.2024.