umhüllte. Freilich, den eigentlichen Kern dieses Geheim- nisses ahnte ich bereits.
Ich langte vor der Felsenwand an und bemerkte die Höhle, deren Eingang gerade so hoch und breit war, daß ein Mann in aufrechter Haltung Zutritt nehmen konnte. Ich lauschte einige Augenblicke, hörte aber nicht das min- deste, und brannte dann eine der Kerzen an, die ich auf den Boden der Höhle niederstellte. Das ging sehr leicht, da die Kerze unten eine genügende Breite besaß.
Nun kehrte ich wieder zurück. Ich sagte mir, daß für einen nicht Unbefangenen schon ein gut Teil Mut dazu gehöre, in der Stunde der Mitternacht den Berg zu besteigen, um mit einem Geiste in Verkehr zu treten.
"Das Licht brennt. Nun warte, ob es verlöschen wird," sagte Ingdscha.
"Es geht nicht der leiseste Lufthauch; wenn das Licht verlöscht, so ist es also ein sicheres Zeichen, daß der Ruh zugegen ist."
"Sieh!" meinte das Mädchen, mich hastig am Arme fassend. "Es ist verlöscht!"
"So gehe ich."
"Ich erwarte dich hier."
Als ich wieder an die Höhle kam, bückte ich mich nieder, um nach dem Lichte zu fühlen -- es war weg- genommen worden. Ich hegte die Ueberzeugung, daß der Geist sich ganz nahe, vielleicht in einer Seitennische, be- finde, um jedes Wort hören zu können. Ein anderer hätte nun einfach seine Angelegenheit in akroamatischer Weise vorgetragen und dann sich zurückgezogen; dies aber lag nicht in meiner Absicht. Ich trat zwei Schritte in die Höhle hinein.
"Ruh 'i kulyan!" rief ich halblaut.
Es erfolgte keine Antwort.
II. 38
umhüllte. Freilich, den eigentlichen Kern dieſes Geheim- niſſes ahnte ich bereits.
Ich langte vor der Felſenwand an und bemerkte die Höhle, deren Eingang gerade ſo hoch und breit war, daß ein Mann in aufrechter Haltung Zutritt nehmen konnte. Ich lauſchte einige Augenblicke, hörte aber nicht das min- deſte, und brannte dann eine der Kerzen an, die ich auf den Boden der Höhle niederſtellte. Das ging ſehr leicht, da die Kerze unten eine genügende Breite beſaß.
Nun kehrte ich wieder zurück. Ich ſagte mir, daß für einen nicht Unbefangenen ſchon ein gut Teil Mut dazu gehöre, in der Stunde der Mitternacht den Berg zu beſteigen, um mit einem Geiſte in Verkehr zu treten.
„Das Licht brennt. Nun warte, ob es verlöſchen wird,“ ſagte Ingdſcha.
„Es geht nicht der leiſeſte Lufthauch; wenn das Licht verlöſcht, ſo iſt es alſo ein ſicheres Zeichen, daß der Ruh zugegen iſt.“
„Sieh!“ meinte das Mädchen, mich haſtig am Arme faſſend. „Es iſt verlöſcht!“
„So gehe ich.“
„Ich erwarte dich hier.“
Als ich wieder an die Höhle kam, bückte ich mich nieder, um nach dem Lichte zu fühlen — es war weg- genommen worden. Ich hegte die Ueberzeugung, daß der Geiſt ſich ganz nahe, vielleicht in einer Seitenniſche, be- finde, um jedes Wort hören zu können. Ein anderer hätte nun einfach ſeine Angelegenheit in akroamatiſcher Weiſe vorgetragen und dann ſich zurückgezogen; dies aber lag nicht in meiner Abſicht. Ich trat zwei Schritte in die Höhle hinein.
„Ruh 'i kulyan!“ rief ich halblaut.
Es erfolgte keine Antwort.
II. 38
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0607"n="593"/>
umhüllte. Freilich, den eigentlichen Kern dieſes Geheim-<lb/>
niſſes ahnte ich bereits.</p><lb/><p>Ich langte vor der Felſenwand an und bemerkte die<lb/>
Höhle, deren Eingang gerade ſo hoch und breit war, daß<lb/>
ein Mann in aufrechter Haltung Zutritt nehmen konnte.<lb/>
Ich lauſchte einige Augenblicke, hörte aber nicht das min-<lb/>
deſte, und brannte dann eine der Kerzen an, die ich<lb/>
auf den Boden der Höhle niederſtellte. Das ging ſehr<lb/>
leicht, da die Kerze unten eine genügende Breite beſaß.</p><lb/><p>Nun kehrte ich wieder zurück. Ich ſagte mir, daß<lb/>
für einen nicht Unbefangenen ſchon ein gut Teil Mut<lb/>
dazu gehöre, in der Stunde der Mitternacht den Berg zu<lb/>
beſteigen, um mit einem Geiſte in Verkehr zu treten.</p><lb/><p>„Das Licht brennt. Nun warte, ob es verlöſchen<lb/>
wird,“ſagte Ingdſcha.</p><lb/><p>„Es geht nicht der leiſeſte Lufthauch; wenn das Licht<lb/>
verlöſcht, ſo iſt es alſo ein ſicheres Zeichen, daß der Ruh<lb/>
zugegen iſt.“</p><lb/><p>„Sieh!“ meinte das Mädchen, mich haſtig am Arme<lb/>
faſſend. „Es iſt verlöſcht!“</p><lb/><p>„So gehe ich.“</p><lb/><p>„Ich erwarte dich hier.“</p><lb/><p>Als ich wieder an die Höhle kam, bückte ich mich<lb/>
nieder, um nach dem Lichte zu fühlen — es war weg-<lb/>
genommen worden. Ich hegte die Ueberzeugung, daß der<lb/>
Geiſt ſich ganz nahe, vielleicht in einer Seitenniſche, be-<lb/>
finde, um jedes Wort hören zu können. Ein anderer<lb/>
hätte nun einfach ſeine Angelegenheit in akroamatiſcher<lb/>
Weiſe vorgetragen und dann ſich zurückgezogen; dies aber<lb/>
lag nicht in meiner Abſicht. Ich trat zwei Schritte in<lb/>
die Höhle hinein.</p><lb/><p>„Ruh 'i kulyan!“ rief ich halblaut.</p><lb/><p>Es erfolgte keine Antwort.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">II. 38</fw><lb/></div></body></text></TEI>
[593/0607]
umhüllte. Freilich, den eigentlichen Kern dieſes Geheim-
niſſes ahnte ich bereits.
Ich langte vor der Felſenwand an und bemerkte die
Höhle, deren Eingang gerade ſo hoch und breit war, daß
ein Mann in aufrechter Haltung Zutritt nehmen konnte.
Ich lauſchte einige Augenblicke, hörte aber nicht das min-
deſte, und brannte dann eine der Kerzen an, die ich
auf den Boden der Höhle niederſtellte. Das ging ſehr
leicht, da die Kerze unten eine genügende Breite beſaß.
Nun kehrte ich wieder zurück. Ich ſagte mir, daß
für einen nicht Unbefangenen ſchon ein gut Teil Mut
dazu gehöre, in der Stunde der Mitternacht den Berg zu
beſteigen, um mit einem Geiſte in Verkehr zu treten.
„Das Licht brennt. Nun warte, ob es verlöſchen
wird,“ ſagte Ingdſcha.
„Es geht nicht der leiſeſte Lufthauch; wenn das Licht
verlöſcht, ſo iſt es alſo ein ſicheres Zeichen, daß der Ruh
zugegen iſt.“
„Sieh!“ meinte das Mädchen, mich haſtig am Arme
faſſend. „Es iſt verlöſcht!“
„So gehe ich.“
„Ich erwarte dich hier.“
Als ich wieder an die Höhle kam, bückte ich mich
nieder, um nach dem Lichte zu fühlen — es war weg-
genommen worden. Ich hegte die Ueberzeugung, daß der
Geiſt ſich ganz nahe, vielleicht in einer Seitenniſche, be-
finde, um jedes Wort hören zu können. Ein anderer
hätte nun einfach ſeine Angelegenheit in akroamatiſcher
Weiſe vorgetragen und dann ſich zurückgezogen; dies aber
lag nicht in meiner Abſicht. Ich trat zwei Schritte in
die Höhle hinein.
„Ruh 'i kulyan!“ rief ich halblaut.
Es erfolgte keine Antwort.
II. 38
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 593. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/607>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.