und wir hatten einen schmalen Felsensattel zu überschreiten, der zu einer steilen Falte des Berges führte.
"Nimm dich in acht, Herr," warnte das Mädchen. "Von jetzt an wird der Weg sehr beschwerlich."
"Das ist nicht gut für alte Leute, die zu dem Geist der Höhle wollen. Hier können nur junge Füße steigen."
"O, auch die Alten können empor, nur müssen sie einen Umweg machen. Von jenseits führt ein ganz guter Pfad bis in die Nähe der Höhle."
Indem wir einander gegenseitig stützten, kletterten wir Hand in Hand empor und gelangten schließlich in ein Gewirr von großen Steinblöcken, zwischen denen ich das Ziel unserer Wanderung vermutete, die bis jetzt über eine halbe Stunde gedauert hatte.
Jetzt bildeten die Blöcke eine Art offenen Gang, in dessen Hintergrunde sich eine dunkle Wand erhob. Ing- dscha blieb stehen.
"Dort ist es," sagte sie, auf das Dunkel deutend. "Du gehst gradaus und wirst am Fuße jener Wand eine Oeffnung sehen, in die du das Licht setzest, nachdem du es angezündet hast. Dann kehrst du zu mir zurück. Ich warte hier auf dich."
"Kann man das Licht hier sehen?"
"Ja. Aber es wird jetzt vergebens brennen, denn es ist noch lange nicht Mitternacht."
"Ich werde es doch versuchen. Hier ist die Leine; halte einstweilen den Hund und lege ihm die Hand auf den Kopf."
Ich nahm die Kerzen und schritt vorwärts. Es war ein Gefühl außerordentlicher Spannung, das mich jetzt beherrschte, und dies war gar kein Wunder; sollte ich doch in das Geheimnis eindringen, das den "Geist der Höhle"
und wir hatten einen ſchmalen Felſenſattel zu überſchreiten, der zu einer ſteilen Falte des Berges führte.
„Nimm dich in acht, Herr,“ warnte das Mädchen. „Von jetzt an wird der Weg ſehr beſchwerlich.“
„Das iſt nicht gut für alte Leute, die zu dem Geiſt der Höhle wollen. Hier können nur junge Füße ſteigen.“
„O, auch die Alten können empor, nur müſſen ſie einen Umweg machen. Von jenſeits führt ein ganz guter Pfad bis in die Nähe der Höhle.“
Indem wir einander gegenſeitig ſtützten, kletterten wir Hand in Hand empor und gelangten ſchließlich in ein Gewirr von großen Steinblöcken, zwiſchen denen ich das Ziel unſerer Wanderung vermutete, die bis jetzt über eine halbe Stunde gedauert hatte.
Jetzt bildeten die Blöcke eine Art offenen Gang, in deſſen Hintergrunde ſich eine dunkle Wand erhob. Ing- dſcha blieb ſtehen.
„Dort iſt es,“ ſagte ſie, auf das Dunkel deutend. „Du gehſt gradaus und wirſt am Fuße jener Wand eine Oeffnung ſehen, in die du das Licht ſetzeſt, nachdem du es angezündet haſt. Dann kehrſt du zu mir zurück. Ich warte hier auf dich.“
„Kann man das Licht hier ſehen?“
„Ja. Aber es wird jetzt vergebens brennen, denn es iſt noch lange nicht Mitternacht.“
„Ich werde es doch verſuchen. Hier iſt die Leine; halte einſtweilen den Hund und lege ihm die Hand auf den Kopf.“
Ich nahm die Kerzen und ſchritt vorwärts. Es war ein Gefühl außerordentlicher Spannung, das mich jetzt beherrſchte, und dies war gar kein Wunder; ſollte ich doch in das Geheimnis eindringen, das den „Geiſt der Höhle“
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[592/0606]
und wir hatten einen ſchmalen Felſenſattel zu überſchreiten,
der zu einer ſteilen Falte des Berges führte.
„Nimm dich in acht, Herr,“ warnte das Mädchen.
„Von jetzt an wird der Weg ſehr beſchwerlich.“
„Das iſt nicht gut für alte Leute, die zu dem
Geiſt der Höhle wollen. Hier können nur junge Füße
ſteigen.“
„O, auch die Alten können empor, nur müſſen ſie
einen Umweg machen. Von jenſeits führt ein ganz guter
Pfad bis in die Nähe der Höhle.“
Indem wir einander gegenſeitig ſtützten, kletterten
wir Hand in Hand empor und gelangten ſchließlich in ein
Gewirr von großen Steinblöcken, zwiſchen denen ich das
Ziel unſerer Wanderung vermutete, die bis jetzt über
eine halbe Stunde gedauert hatte.
Jetzt bildeten die Blöcke eine Art offenen Gang, in
deſſen Hintergrunde ſich eine dunkle Wand erhob. Ing-
dſcha blieb ſtehen.
„Dort iſt es,“ ſagte ſie, auf das Dunkel deutend.
„Du gehſt gradaus und wirſt am Fuße jener Wand eine
Oeffnung ſehen, in die du das Licht ſetzeſt, nachdem
du es angezündet haſt. Dann kehrſt du zu mir zurück.
Ich warte hier auf dich.“
„Kann man das Licht hier ſehen?“
„Ja. Aber es wird jetzt vergebens brennen, denn es
iſt noch lange nicht Mitternacht.“
„Ich werde es doch verſuchen. Hier iſt die Leine;
halte einſtweilen den Hund und lege ihm die Hand auf
den Kopf.“
Ich nahm die Kerzen und ſchritt vorwärts. Es war
ein Gefühl außerordentlicher Spannung, das mich jetzt
beherrſchte, und dies war gar kein Wunder; ſollte ich doch
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 592. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/606>, abgerufen am 25.11.2024.
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