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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

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"Herr," rief sie, "du hast recht vermutet: Nedschir-
Bey ist es, der dich gefangen hält. Ich weiß nicht,
weshalb er es gethan hat, aber ich liebe ihn nicht; er ist
ein gewaltthätiger Mann, und ich werde dich retten."

"Du willst mir diese Fesseln abnehmen?"

"Herr, das darf ich nicht wagen. Nedschir-Bey wird
bald kommen, und dann würde er mich sehr bestrafen."

"Was willst du sonst thun?"

"Emir, heut ist der Tag, an welchem man um
Mitternacht hier zum Ruh 'i kulyan geht. Der Geist
wird dich erretten."

"Willst du bei ihm für mich bitten?"

"Ich kann nicht zu ihm; ich bin sehr alt, und der
Weg ist mir zu steil. Aber" -- -- -- sie hielt inne und
blickte nachdenklich vor sich nieder; dann blickte sie mich
forschend an -- -- "Herr, wirst du mir eine Lüge sagen?"

"Ich sage dir die Wahrheit!"

"Wirst du fliehen, wenn du mir versprichst, es nicht
zu thun?"

"Was ich verspreche, das halte ich!"

"Deine Arme schmerzen dich. Wirst du hier bleiben,
wenn ich sie dir losbinde?"

"Ich verspreche es."

"Aber darf ich sie dir auch wieder fesseln, wenn
jemand kommt?"

"Auch das."

"Schwöre es!"

"Die heilige Schrift gebietet: Eure Rede sei ja ja,
nein nein; was darüber ist, das ist unrecht. -- Ich
schwöre nicht, aber ich verspreche es dir und werde mein
Wort halten."

"Ich glaube dir!"

Sie erhob sich halb und versuchte es, die Riemen

„Herr,“ rief ſie, „du haſt recht vermutet: Nedſchir-
Bey iſt es, der dich gefangen hält. Ich weiß nicht,
weshalb er es gethan hat, aber ich liebe ihn nicht; er iſt
ein gewaltthätiger Mann, und ich werde dich retten.“

„Du willſt mir dieſe Feſſeln abnehmen?“

„Herr, das darf ich nicht wagen. Nedſchir-Bey wird
bald kommen, und dann würde er mich ſehr beſtrafen.“

„Was willſt du ſonſt thun?“

„Emir, heut iſt der Tag, an welchem man um
Mitternacht hier zum Ruh 'i kulyan geht. Der Geiſt
wird dich erretten.“

„Willſt du bei ihm für mich bitten?“

„Ich kann nicht zu ihm; ich bin ſehr alt, und der
Weg iſt mir zu ſteil. Aber“ — — — ſie hielt inne und
blickte nachdenklich vor ſich nieder; dann blickte ſie mich
forſchend an — — „Herr, wirſt du mir eine Lüge ſagen?“

„Ich ſage dir die Wahrheit!“

„Wirſt du fliehen, wenn du mir verſprichſt, es nicht
zu thun?“

„Was ich verſpreche, das halte ich!“

„Deine Arme ſchmerzen dich. Wirſt du hier bleiben,
wenn ich ſie dir losbinde?“

„Ich verſpreche es.“

„Aber darf ich ſie dir auch wieder feſſeln, wenn
jemand kommt?“

„Auch das.“

„Schwöre es!“

„Die heilige Schrift gebietet: Eure Rede ſei ja ja,
nein nein; was darüber iſt, das iſt unrecht. — Ich
ſchwöre nicht, aber ich verſpreche es dir und werde mein
Wort halten.“

„Ich glaube dir!“

Sie erhob ſich halb und verſuchte es, die Riemen

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[564/0578] „Herr,“ rief ſie, „du haſt recht vermutet: Nedſchir- Bey iſt es, der dich gefangen hält. Ich weiß nicht, weshalb er es gethan hat, aber ich liebe ihn nicht; er iſt ein gewaltthätiger Mann, und ich werde dich retten.“ „Du willſt mir dieſe Feſſeln abnehmen?“ „Herr, das darf ich nicht wagen. Nedſchir-Bey wird bald kommen, und dann würde er mich ſehr beſtrafen.“ „Was willſt du ſonſt thun?“ „Emir, heut iſt der Tag, an welchem man um Mitternacht hier zum Ruh 'i kulyan geht. Der Geiſt wird dich erretten.“ „Willſt du bei ihm für mich bitten?“ „Ich kann nicht zu ihm; ich bin ſehr alt, und der Weg iſt mir zu ſteil. Aber“ — — — ſie hielt inne und blickte nachdenklich vor ſich nieder; dann blickte ſie mich forſchend an — — „Herr, wirſt du mir eine Lüge ſagen?“ „Ich ſage dir die Wahrheit!“ „Wirſt du fliehen, wenn du mir verſprichſt, es nicht zu thun?“ „Was ich verſpreche, das halte ich!“ „Deine Arme ſchmerzen dich. Wirſt du hier bleiben, wenn ich ſie dir losbinde?“ „Ich verſpreche es.“ „Aber darf ich ſie dir auch wieder feſſeln, wenn jemand kommt?“ „Auch das.“ „Schwöre es!“ „Die heilige Schrift gebietet: Eure Rede ſei ja ja, nein nein; was darüber iſt, das iſt unrecht. — Ich ſchwöre nicht, aber ich verſpreche es dir und werde mein Wort halten.“ „Ich glaube dir!“ Sie erhob ſich halb und verſuchte es, die Riemen

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Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 564. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/578>, abgerufen am 12.05.2024.