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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

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Mörder. Ihr gebt zu, daß ihr Tausende von ihnen ge-
tötet habt; nun dürft ihr euch nicht wundern, wenn sie
das Leben eures Bey von euch fordern, der in ihre Hände
gefallen ist. Eigentlich hätten sie das Recht, grad so viele
Leben von euch zu fordern, als ihr ihnen genommen habt."

"Die Giaurs mögen kommen!" murrte der Agha.

"Sie werden auch kommen, wenn ihr ihnen nicht die
Hand der Versöhnung reicht."

"Der Versöhnung? Bist du toll?"

"Ich bin bei Sinnen. Was wollt ihr ihnen thun?
Der Zab liegt zwischen ihnen und euch, und es würde
euch sehr viele Leben kosten, um die Brücke oder eine Furt
zu erstürmen. Und bis euch dies gelänge, hätten sie so
viele Helfer aus Aschihtha, Serspitho, Zawitha, Mini-
janisch, Murghi und aus andern Orten erhalten, daß sie
euch erdrücken würden."

Da erhob sich der Anführer mit der Miene eines
Anklägers vom Boden.

"Weißt du, wer daran schuld ist?" fragte er.

"Wer?" erwiderte ich ruhig.

"Du selbst, nur du allein."

"Ich? Inwiefern?"

"Hast du uns nicht vorhin selbst gestanden, daß du
ihnen den Rat gegeben hast, sich hinter den Fluß zurück-
zuziehen?" -- Und zu den andern gewendet, fügte er
hinzu: "Seht ihr nun, daß er nicht unser Freund, son-
dern ein Verräter ist?"

Ich entgegnete ihm:

"Grad weil ich euer Freund bin, habe ich ihnen
diesen Rat gegeben; denn sobald der erste Mann von
ihnen unter euren Waffen gefallen wäre, hätten sie den
Bey getötet. Soll ich vielleicht zurückkehren und dem
Bey sagen, daß ihr sein Leben für nichts achtet?"

Mörder. Ihr gebt zu, daß ihr Tauſende von ihnen ge-
tötet habt; nun dürft ihr euch nicht wundern, wenn ſie
das Leben eures Bey von euch fordern, der in ihre Hände
gefallen iſt. Eigentlich hätten ſie das Recht, grad ſo viele
Leben von euch zu fordern, als ihr ihnen genommen habt.“

„Die Giaurs mögen kommen!“ murrte der Agha.

„Sie werden auch kommen, wenn ihr ihnen nicht die
Hand der Verſöhnung reicht.“

„Der Verſöhnung? Biſt du toll?“

„Ich bin bei Sinnen. Was wollt ihr ihnen thun?
Der Zab liegt zwiſchen ihnen und euch, und es würde
euch ſehr viele Leben koſten, um die Brücke oder eine Furt
zu erſtürmen. Und bis euch dies gelänge, hätten ſie ſo
viele Helfer aus Aſchihtha, Serſpitho, Zawitha, Mini-
janiſch, Murghi und aus andern Orten erhalten, daß ſie
euch erdrücken würden.“

Da erhob ſich der Anführer mit der Miene eines
Anklägers vom Boden.

„Weißt du, wer daran ſchuld iſt?“ fragte er.

„Wer?“ erwiderte ich ruhig.

„Du ſelbſt, nur du allein.“

„Ich? Inwiefern?“

„Haſt du uns nicht vorhin ſelbſt geſtanden, daß du
ihnen den Rat gegeben haſt, ſich hinter den Fluß zurück-
zuziehen?“ — Und zu den andern gewendet, fügte er
hinzu: „Seht ihr nun, daß er nicht unſer Freund, ſon-
dern ein Verräter iſt?“

Ich entgegnete ihm:

„Grad weil ich euer Freund bin, habe ich ihnen
dieſen Rat gegeben; denn ſobald der erſte Mann von
ihnen unter euren Waffen gefallen wäre, hätten ſie den
Bey getötet. Soll ich vielleicht zurückkehren und dem
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[547/0561] Mörder. Ihr gebt zu, daß ihr Tauſende von ihnen ge- tötet habt; nun dürft ihr euch nicht wundern, wenn ſie das Leben eures Bey von euch fordern, der in ihre Hände gefallen iſt. Eigentlich hätten ſie das Recht, grad ſo viele Leben von euch zu fordern, als ihr ihnen genommen habt.“ „Die Giaurs mögen kommen!“ murrte der Agha. „Sie werden auch kommen, wenn ihr ihnen nicht die Hand der Verſöhnung reicht.“ „Der Verſöhnung? Biſt du toll?“ „Ich bin bei Sinnen. Was wollt ihr ihnen thun? Der Zab liegt zwiſchen ihnen und euch, und es würde euch ſehr viele Leben koſten, um die Brücke oder eine Furt zu erſtürmen. Und bis euch dies gelänge, hätten ſie ſo viele Helfer aus Aſchihtha, Serſpitho, Zawitha, Mini- janiſch, Murghi und aus andern Orten erhalten, daß ſie euch erdrücken würden.“ Da erhob ſich der Anführer mit der Miene eines Anklägers vom Boden. „Weißt du, wer daran ſchuld iſt?“ fragte er. „Wer?“ erwiderte ich ruhig. „Du ſelbſt, nur du allein.“ „Ich? Inwiefern?“ „Haſt du uns nicht vorhin ſelbſt geſtanden, daß du ihnen den Rat gegeben haſt, ſich hinter den Fluß zurück- zuziehen?“ — Und zu den andern gewendet, fügte er hinzu: „Seht ihr nun, daß er nicht unſer Freund, ſon- dern ein Verräter iſt?“ Ich entgegnete ihm: „Grad weil ich euer Freund bin, habe ich ihnen dieſen Rat gegeben; denn ſobald der erſte Mann von ihnen unter euren Waffen gefallen wäre, hätten ſie den Bey getötet. Soll ich vielleicht zurückkehren und dem Bey ſagen, daß ihr ſein Leben für nichts achtet?“

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Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 547. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/561>, abgerufen am 13.05.2024.