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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

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"Wir!" erscholl es triumphierend rundum im Kreise.

"Und wer waren jene, welche untergingen?"

Dieses Mal kam der Anführer allen zuvor:

"Die Nasarah, die Allah verderben möge!"

"Was hatten sie euch gethan?"

"Uns?" fragte er verwundert. "Sind sie nicht Giaurs?
Glauben sie nicht an drei Götter? Beten sie nicht Men-
schen an, welche längst gestorben sind? Predigen nicht die
Ulemas *) die ewige Vernichtung gegen sie?"

Es wäre hier die größte Unvorsichtigkeit gewesen,
theologische Streitfragen aufzugreifen; darum antwortete
ich einfach:

"Also ihr habt sie wegen ihres Glaubens getötet!
Ihr gebt zu, daß ihr sie getötet habt, Hunderte und
Tausende?"

"Viele Tausende!" sagte er stolz.

"Nun wohl, ihr kennt die Thar, die Blutrache. Dürft
ihr euch wundern, daß die Verwandten der Gemordeten
sich jetzt erheben und euer Blut fordern?"

"Herr, sie dürfen das nicht; sie sind Giaurs!"

"Du irrst, denn Menschenblut bleibt Menschenblut.
Das Blut Abels war nicht das Blut eines Moslem, und
dennoch sprach Gott zu Kain: ,Das Blut deines Bruders
schreit mir von der Erde empor.' Ich war in vielen
Ländern und bei vielen Völkern, deren Namen ihr nicht
einmal kennt; sie waren keine Moslemim, aber die Blut-
rache hatten sie doch, und sie wundern sich nicht darüber,
daß auch ihr den Tod der Eurigen rächt. Ich stehe hier
als ein unparteiischer Bote; ich darf nicht sagen, daß nur
ihr allein das Recht zur Blutrache habt, denn auch eure
Gegner haben ihr Leben von Gott erhalten, und wenn
sie es nicht gegen euch verteidigen sollen, so seid ihr feige

*) Muhammedanische Priester.

„Wir!“ erſcholl es triumphierend rundum im Kreiſe.

„Und wer waren jene, welche untergingen?“

Dieſes Mal kam der Anführer allen zuvor:

„Die Naſarah, die Allah verderben möge!“

„Was hatten ſie euch gethan?“

„Uns?“ fragte er verwundert. „Sind ſie nicht Giaurs?
Glauben ſie nicht an drei Götter? Beten ſie nicht Men-
ſchen an, welche längſt geſtorben ſind? Predigen nicht die
Ulemas *) die ewige Vernichtung gegen ſie?“

Es wäre hier die größte Unvorſichtigkeit geweſen,
theologiſche Streitfragen aufzugreifen; darum antwortete
ich einfach:

„Alſo ihr habt ſie wegen ihres Glaubens getötet!
Ihr gebt zu, daß ihr ſie getötet habt, Hunderte und
Tauſende?“

„Viele Tauſende!“ ſagte er ſtolz.

„Nun wohl, ihr kennt die Thar, die Blutrache. Dürft
ihr euch wundern, daß die Verwandten der Gemordeten
ſich jetzt erheben und euer Blut fordern?“

„Herr, ſie dürfen das nicht; ſie ſind Giaurs!“

„Du irrſt, denn Menſchenblut bleibt Menſchenblut.
Das Blut Abels war nicht das Blut eines Moslem, und
dennoch ſprach Gott zu Kain: ‚Das Blut deines Bruders
ſchreit mir von der Erde empor.‘ Ich war in vielen
Ländern und bei vielen Völkern, deren Namen ihr nicht
einmal kennt; ſie waren keine Moslemim, aber die Blut-
rache hatten ſie doch, und ſie wundern ſich nicht darüber,
daß auch ihr den Tod der Eurigen rächt. Ich ſtehe hier
als ein unparteiiſcher Bote; ich darf nicht ſagen, daß nur
ihr allein das Recht zur Blutrache habt, denn auch eure
Gegner haben ihr Leben von Gott erhalten, und wenn
ſie es nicht gegen euch verteidigen ſollen, ſo ſeid ihr feige

*) Muhammedaniſche Prieſter.
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[546/0560] „Wir!“ erſcholl es triumphierend rundum im Kreiſe. „Und wer waren jene, welche untergingen?“ Dieſes Mal kam der Anführer allen zuvor: „Die Naſarah, die Allah verderben möge!“ „Was hatten ſie euch gethan?“ „Uns?“ fragte er verwundert. „Sind ſie nicht Giaurs? Glauben ſie nicht an drei Götter? Beten ſie nicht Men- ſchen an, welche längſt geſtorben ſind? Predigen nicht die Ulemas *) die ewige Vernichtung gegen ſie?“ Es wäre hier die größte Unvorſichtigkeit geweſen, theologiſche Streitfragen aufzugreifen; darum antwortete ich einfach: „Alſo ihr habt ſie wegen ihres Glaubens getötet! Ihr gebt zu, daß ihr ſie getötet habt, Hunderte und Tauſende?“ „Viele Tauſende!“ ſagte er ſtolz. „Nun wohl, ihr kennt die Thar, die Blutrache. Dürft ihr euch wundern, daß die Verwandten der Gemordeten ſich jetzt erheben und euer Blut fordern?“ „Herr, ſie dürfen das nicht; ſie ſind Giaurs!“ „Du irrſt, denn Menſchenblut bleibt Menſchenblut. Das Blut Abels war nicht das Blut eines Moslem, und dennoch ſprach Gott zu Kain: ‚Das Blut deines Bruders ſchreit mir von der Erde empor.‘ Ich war in vielen Ländern und bei vielen Völkern, deren Namen ihr nicht einmal kennt; ſie waren keine Moslemim, aber die Blut- rache hatten ſie doch, und ſie wundern ſich nicht darüber, daß auch ihr den Tod der Eurigen rächt. Ich ſtehe hier als ein unparteiiſcher Bote; ich darf nicht ſagen, daß nur ihr allein das Recht zur Blutrache habt, denn auch eure Gegner haben ihr Leben von Gott erhalten, und wenn ſie es nicht gegen euch verteidigen ſollen, ſo ſeid ihr feige *) Muhammedaniſche Prieſter.

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Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 546. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/560>, abgerufen am 12.05.2024.