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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

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"Der Melek von Lizan verlangt das Blut des Bey."

"Warum?" fragte es umher.

"Weil durch die Kurden so viele Chaldani gefallen
sind."

Diese Behauptung brachte unter meinen Zuhörern
eine ganz bedeutende Aufregung hervor. Ich ließ sie einige
Zeit gewähren und bat sie dann, mich ruhig anzuhören:

"Ich bin der Abgesandte des Bey; aber ich bin zu
gleicher Zeit auch der Bote des Melek; ich liebe den Bey,
und auch der Melek hat mich gebeten, sein Freund zu sein.
Darf ich einen von ihnen betrügen?"

"Nein," antwortete der Alte.

"Du hast recht gesprochen! Ich bin fremd in diesem
Lande; ich habe weder mit euch noch mit einem Nasarah
eine Rache und darum muß ich das Wort des Propheten
befolgen: ,Dein Wort sei der Schutz deines Freundes!'
Ich werde zu euch so sprechen, als ob der Bey und der
Melek hier ständen und mit euch redeten. Und Allah
wird eure Herzen erleuchten, daß kein ungerechter Ge-
danke eure Seele verdunkelt."

Wieder nahm der Alte das Wort.

"Rede getrost, Herr; rede auch für den Melek, denn
auch er hat dich gesandt. Du wirst nur die Wahrheit
sagen, und wir glauben, daß du uns nicht beleidigen und
erzürnen willst!"

"So hört, meine Brüder! Es ist noch nicht viele
Jahre her, da gab es ein großes Geschrei auf den Bergen
und ein großes Wehklagen in den Thälern; die Menschen
weinten auf den Höhen, und die Kinder der Menschen
heulten in den Tiefen; das Schwert wütete wie die erste
Stunde des jüngsten Tages, und das Messer lag in der
Hand des tausendfältigen Todes. Saget mir, wer führte
dieses Schwert und dieses Messer?"

II. 35

„Der Melek von Lizan verlangt das Blut des Bey.“

„Warum?“ fragte es umher.

„Weil durch die Kurden ſo viele Chaldani gefallen
ſind.“

Dieſe Behauptung brachte unter meinen Zuhörern
eine ganz bedeutende Aufregung hervor. Ich ließ ſie einige
Zeit gewähren und bat ſie dann, mich ruhig anzuhören:

„Ich bin der Abgeſandte des Bey; aber ich bin zu
gleicher Zeit auch der Bote des Melek; ich liebe den Bey,
und auch der Melek hat mich gebeten, ſein Freund zu ſein.
Darf ich einen von ihnen betrügen?“

„Nein,“ antwortete der Alte.

„Du haſt recht geſprochen! Ich bin fremd in dieſem
Lande; ich habe weder mit euch noch mit einem Naſarah
eine Rache und darum muß ich das Wort des Propheten
befolgen: ‚Dein Wort ſei der Schutz deines Freundes!‘
Ich werde zu euch ſo ſprechen, als ob der Bey und der
Melek hier ſtänden und mit euch redeten. Und Allah
wird eure Herzen erleuchten, daß kein ungerechter Ge-
danke eure Seele verdunkelt.“

Wieder nahm der Alte das Wort.

„Rede getroſt, Herr; rede auch für den Melek, denn
auch er hat dich geſandt. Du wirſt nur die Wahrheit
ſagen, und wir glauben, daß du uns nicht beleidigen und
erzürnen willſt!“

„So hört, meine Brüder! Es iſt noch nicht viele
Jahre her, da gab es ein großes Geſchrei auf den Bergen
und ein großes Wehklagen in den Thälern; die Menſchen
weinten auf den Höhen, und die Kinder der Menſchen
heulten in den Tiefen; das Schwert wütete wie die erſte
Stunde des jüngſten Tages, und das Meſſer lag in der
Hand des tauſendfältigen Todes. Saget mir, wer führte
dieſes Schwert und dieſes Meſſer?“

II. 35
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[545/0559] „Der Melek von Lizan verlangt das Blut des Bey.“ „Warum?“ fragte es umher. „Weil durch die Kurden ſo viele Chaldani gefallen ſind.“ Dieſe Behauptung brachte unter meinen Zuhörern eine ganz bedeutende Aufregung hervor. Ich ließ ſie einige Zeit gewähren und bat ſie dann, mich ruhig anzuhören: „Ich bin der Abgeſandte des Bey; aber ich bin zu gleicher Zeit auch der Bote des Melek; ich liebe den Bey, und auch der Melek hat mich gebeten, ſein Freund zu ſein. Darf ich einen von ihnen betrügen?“ „Nein,“ antwortete der Alte. „Du haſt recht geſprochen! Ich bin fremd in dieſem Lande; ich habe weder mit euch noch mit einem Naſarah eine Rache und darum muß ich das Wort des Propheten befolgen: ‚Dein Wort ſei der Schutz deines Freundes!‘ Ich werde zu euch ſo ſprechen, als ob der Bey und der Melek hier ſtänden und mit euch redeten. Und Allah wird eure Herzen erleuchten, daß kein ungerechter Ge- danke eure Seele verdunkelt.“ Wieder nahm der Alte das Wort. „Rede getroſt, Herr; rede auch für den Melek, denn auch er hat dich geſandt. Du wirſt nur die Wahrheit ſagen, und wir glauben, daß du uns nicht beleidigen und erzürnen willſt!“ „So hört, meine Brüder! Es iſt noch nicht viele Jahre her, da gab es ein großes Geſchrei auf den Bergen und ein großes Wehklagen in den Thälern; die Menſchen weinten auf den Höhen, und die Kinder der Menſchen heulten in den Tiefen; das Schwert wütete wie die erſte Stunde des jüngſten Tages, und das Meſſer lag in der Hand des tauſendfältigen Todes. Saget mir, wer führte dieſes Schwert und dieſes Meſſer?“ II. 35

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Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 545. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/559>, abgerufen am 13.05.2024.