"Das habe ich ja bereits gethan, aber ein jeder bringt mir eine andere Kunde. Und siehe meine Leute an! Wie soll ich mit ihnen zum Kampf ziehen?"
Der Mann dauerte mich wirklich. Es war sehr leicht zu erkennen, daß er sich auf seine Leute nicht verlassen könne. Der so lange auf ihnen lastende Druck hatte sie entmannt. Zu einem hinterlistigen Ueberfall hatten sie gestern den Mut gehabt; heute aber, wo es nun galt, die Folgen davon zu tragen, mangelte es ihnen an der nötigen Thatkraft. Es war nicht eine Spur von militärischer Zucht zu bemerken; sie glichen einer Herde von Schafen, welche gedankenlos den Wölfen entgegen rennen.
Auch der Melek selbst machte nicht den Eindruck eines Mannes, der die jetzt so nötige Willenskraft und Widerstandsfähigkeit besaß. Es war mehr als Sorge, es war fast Angst, die sich auf seinem Angesicht abspiegelte, und vielleicht wäre es von Nutzen für ihn gewesen, wenn Nedschir-Bey sich noch an seiner Seite befunden hätte. Es war mir sehr klar, daß die Chaldäer gegen die Ber- wari-Kurden den kürzeren ziehen würden. Daher ant- wortete ich auf die Klage des Melek:
"Willst du meinen Rat hören?"
"Sage mir ihn!"
"Die Kurden sind euch überlegen. Es giebt nur zwei Wege, die du jetzt einschlagen kannst. Du ziehst dich mit den Deinen schleunigst auf das andere Ufer des Flusses zurück und verteidigst den Uebergang. Dadurch gewinnst du Zeit, Verstärkungen an dich zu ziehen."
"Dann aber muß ich ihnen alles opfern, was am rechten Ufer liegt."
"Sie werden dies ohnehin nehmen."
"Welches ist der zweite Weg?"
"Du unterhandelst mit ihnen."
„Das habe ich ja bereits gethan, aber ein jeder bringt mir eine andere Kunde. Und ſiehe meine Leute an! Wie ſoll ich mit ihnen zum Kampf ziehen?“
Der Mann dauerte mich wirklich. Es war ſehr leicht zu erkennen, daß er ſich auf ſeine Leute nicht verlaſſen könne. Der ſo lange auf ihnen laſtende Druck hatte ſie entmannt. Zu einem hinterliſtigen Ueberfall hatten ſie geſtern den Mut gehabt; heute aber, wo es nun galt, die Folgen davon zu tragen, mangelte es ihnen an der nötigen Thatkraft. Es war nicht eine Spur von militäriſcher Zucht zu bemerken; ſie glichen einer Herde von Schafen, welche gedankenlos den Wölfen entgegen rennen.
Auch der Melek ſelbſt machte nicht den Eindruck eines Mannes, der die jetzt ſo nötige Willenskraft und Widerſtandsfähigkeit beſaß. Es war mehr als Sorge, es war faſt Angſt, die ſich auf ſeinem Angeſicht abſpiegelte, und vielleicht wäre es von Nutzen für ihn geweſen, wenn Nedſchir-Bey ſich noch an ſeiner Seite befunden hätte. Es war mir ſehr klar, daß die Chaldäer gegen die Ber- wari-Kurden den kürzeren ziehen würden. Daher ant- wortete ich auf die Klage des Melek:
„Willſt du meinen Rat hören?“
„Sage mir ihn!“
„Die Kurden ſind euch überlegen. Es giebt nur zwei Wege, die du jetzt einſchlagen kannſt. Du ziehſt dich mit den Deinen ſchleunigſt auf das andere Ufer des Fluſſes zurück und verteidigſt den Uebergang. Dadurch gewinnſt du Zeit, Verſtärkungen an dich zu ziehen.“
„Dann aber muß ich ihnen alles opfern, was am rechten Ufer liegt.“
„Sie werden dies ohnehin nehmen.“
„Welches iſt der zweite Weg?“
„Du unterhandelſt mit ihnen.“
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„Das habe ich ja bereits gethan, aber ein jeder bringt
mir eine andere Kunde. Und ſiehe meine Leute an! Wie
ſoll ich mit ihnen zum Kampf ziehen?“
Der Mann dauerte mich wirklich. Es war ſehr leicht
zu erkennen, daß er ſich auf ſeine Leute nicht verlaſſen
könne. Der ſo lange auf ihnen laſtende Druck hatte ſie
entmannt. Zu einem hinterliſtigen Ueberfall hatten ſie
geſtern den Mut gehabt; heute aber, wo es nun galt, die
Folgen davon zu tragen, mangelte es ihnen an der nötigen
Thatkraft. Es war nicht eine Spur von militäriſcher
Zucht zu bemerken; ſie glichen einer Herde von Schafen,
welche gedankenlos den Wölfen entgegen rennen.
Auch der Melek ſelbſt machte nicht den Eindruck
eines Mannes, der die jetzt ſo nötige Willenskraft und
Widerſtandsfähigkeit beſaß. Es war mehr als Sorge, es
war faſt Angſt, die ſich auf ſeinem Angeſicht abſpiegelte,
und vielleicht wäre es von Nutzen für ihn geweſen, wenn
Nedſchir-Bey ſich noch an ſeiner Seite befunden hätte.
Es war mir ſehr klar, daß die Chaldäer gegen die Ber-
wari-Kurden den kürzeren ziehen würden. Daher ant-
wortete ich auf die Klage des Melek:
„Willſt du meinen Rat hören?“
„Sage mir ihn!“
„Die Kurden ſind euch überlegen. Es giebt nur zwei
Wege, die du jetzt einſchlagen kannſt. Du ziehſt dich
mit den Deinen ſchleunigſt auf das andere Ufer des Fluſſes
zurück und verteidigſt den Uebergang. Dadurch gewinnſt
du Zeit, Verſtärkungen an dich zu ziehen.“
„Dann aber muß ich ihnen alles opfern, was am
rechten Ufer liegt.“
„Sie werden dies ohnehin nehmen.“
„Welches iſt der zweite Weg?“
„Du unterhandelſt mit ihnen.“
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/544>, abgerufen am 12.12.2024.
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