Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

Bild:
<< vorherige Seite

"Nedschir-Bey, blicke da hinauf!"

Er folgte der Richtung meiner Augen und sah die
Gewehre aller meiner Gefährten auf sich gerichtet. Er
hatte doch genug Besinnung, um diese Sprache zu ver-
stehen. Er blieb halten und erhob die Faust.

"Mann, du begegnest mir wieder!" drohte er.

Ich zuckte nur die Achsel, und er ging davon.

"Chodih," meinte der noch vor Anstrengung keuchende
Melek, "du befandest dich in einer großen Gefahr!"

"Sie war sehr klein. Ein einziger Blick hinauf nach
meinen Leuten hat diesen Mann unschädlich gemacht."

"Hüte dich vor ihm!"

"Ich bin dein Gast. Sorge dafür, daß er mich
nicht beleidigt!"

"Man sagte mir, daß du mich suchest?"

"Ja. Ich wollte dich fragen, ob ich frei in Lizan
umhergehen kann."

"Du kannst es."

"Aber du wirst mir eine Begleitung geben?"

"Nur zu deiner Sicherheit."

"Ich verstehe dich und füge mich darein. Wer wird
mein Aufseher sein?"

"Nicht Aufseher, sondern Beschützer, Chodih. Ich
gebe einen Karuhja an deine Seite."

Also einen Vorleser, einen Geistlichen! Das war mir
lieb und recht.

"Wo ist er?" fragte ich.

"Hier im Hause wohnt er bei mir. Ich werde ihn
dir senden."

Er trat in das Innere des Gebäudes, und bald
darauf kam ein Mann heraus, der in den mittleren
Jahren stand. Er trug zwar die gewöhnliche Kleidung
dieser Gegend, aber in seinem Wesen hatte er etwas an

„Nedſchir-Bey, blicke da hinauf!“

Er folgte der Richtung meiner Augen und ſah die
Gewehre aller meiner Gefährten auf ſich gerichtet. Er
hatte doch genug Beſinnung, um dieſe Sprache zu ver-
ſtehen. Er blieb halten und erhob die Fauſt.

„Mann, du begegneſt mir wieder!“ drohte er.

Ich zuckte nur die Achſel, und er ging davon.

„Chodih,“ meinte der noch vor Anſtrengung keuchende
Melek, „du befandeſt dich in einer großen Gefahr!“

„Sie war ſehr klein. Ein einziger Blick hinauf nach
meinen Leuten hat dieſen Mann unſchädlich gemacht.“

„Hüte dich vor ihm!“

„Ich bin dein Gaſt. Sorge dafür, daß er mich
nicht beleidigt!“

„Man ſagte mir, daß du mich ſucheſt?“

„Ja. Ich wollte dich fragen, ob ich frei in Lizan
umhergehen kann.“

„Du kannſt es.“

„Aber du wirſt mir eine Begleitung geben?“

„Nur zu deiner Sicherheit.“

„Ich verſtehe dich und füge mich darein. Wer wird
mein Aufſeher ſein?“

„Nicht Aufſeher, ſondern Beſchützer, Chodih. Ich
gebe einen Karuhja an deine Seite.“

Alſo einen Vorleſer, einen Geiſtlichen! Das war mir
lieb und recht.

„Wo iſt er?“ fragte ich.

„Hier im Hauſe wohnt er bei mir. Ich werde ihn
dir ſenden.“

Er trat in das Innere des Gebäudes, und bald
darauf kam ein Mann heraus, der in den mittleren
Jahren ſtand. Er trug zwar die gewöhnliche Kleidung
dieſer Gegend, aber in ſeinem Weſen hatte er etwas an

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0536" n="522"/>
        <p>&#x201E;Ned&#x017F;chir-Bey, blicke da hinauf!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Er folgte der Richtung meiner Augen und &#x017F;ah die<lb/>
Gewehre aller meiner Gefährten auf &#x017F;ich gerichtet. Er<lb/>
hatte doch genug Be&#x017F;innung, um die&#x017F;e Sprache zu ver-<lb/>
&#x017F;tehen. Er blieb halten und erhob die Fau&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Mann, du begegne&#x017F;t mir wieder!&#x201C; drohte er.</p><lb/>
        <p>Ich zuckte nur die Ach&#x017F;el, und er ging davon.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Chodih,&#x201C; meinte der noch vor An&#x017F;trengung keuchende<lb/>
Melek, &#x201E;du befande&#x017F;t dich in einer großen Gefahr!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Sie war &#x017F;ehr klein. Ein einziger Blick hinauf nach<lb/>
meinen Leuten hat die&#x017F;en Mann un&#x017F;chädlich gemacht.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Hüte dich vor ihm!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ich bin dein Ga&#x017F;t. Sorge dafür, daß er mich<lb/>
nicht beleidigt!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Man &#x017F;agte mir, daß du mich &#x017F;uche&#x017F;t?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ja. Ich wollte dich fragen, ob ich frei in Lizan<lb/>
umhergehen kann.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Du kann&#x017F;t es.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Aber du wir&#x017F;t mir eine Begleitung geben?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nur zu deiner Sicherheit.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ich ver&#x017F;tehe dich und füge mich darein. Wer wird<lb/>
mein Auf&#x017F;eher &#x017F;ein?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nicht Auf&#x017F;eher, &#x017F;ondern Be&#x017F;chützer, Chodih. Ich<lb/>
gebe einen Karuhja an deine Seite.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o einen Vorle&#x017F;er, einen Gei&#x017F;tlichen! Das war mir<lb/>
lieb und recht.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wo i&#x017F;t er?&#x201C; fragte ich.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Hier im Hau&#x017F;e wohnt er bei mir. Ich werde ihn<lb/>
dir &#x017F;enden.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Er trat in das Innere des Gebäudes, und bald<lb/>
darauf kam ein Mann heraus, der in den mittleren<lb/>
Jahren &#x017F;tand. Er trug zwar die gewöhnliche Kleidung<lb/>
die&#x017F;er Gegend, aber in &#x017F;einem We&#x017F;en hatte er etwas an<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[522/0536] „Nedſchir-Bey, blicke da hinauf!“ Er folgte der Richtung meiner Augen und ſah die Gewehre aller meiner Gefährten auf ſich gerichtet. Er hatte doch genug Beſinnung, um dieſe Sprache zu ver- ſtehen. Er blieb halten und erhob die Fauſt. „Mann, du begegneſt mir wieder!“ drohte er. Ich zuckte nur die Achſel, und er ging davon. „Chodih,“ meinte der noch vor Anſtrengung keuchende Melek, „du befandeſt dich in einer großen Gefahr!“ „Sie war ſehr klein. Ein einziger Blick hinauf nach meinen Leuten hat dieſen Mann unſchädlich gemacht.“ „Hüte dich vor ihm!“ „Ich bin dein Gaſt. Sorge dafür, daß er mich nicht beleidigt!“ „Man ſagte mir, daß du mich ſucheſt?“ „Ja. Ich wollte dich fragen, ob ich frei in Lizan umhergehen kann.“ „Du kannſt es.“ „Aber du wirſt mir eine Begleitung geben?“ „Nur zu deiner Sicherheit.“ „Ich verſtehe dich und füge mich darein. Wer wird mein Aufſeher ſein?“ „Nicht Aufſeher, ſondern Beſchützer, Chodih. Ich gebe einen Karuhja an deine Seite.“ Alſo einen Vorleſer, einen Geiſtlichen! Das war mir lieb und recht. „Wo iſt er?“ fragte ich. „Hier im Hauſe wohnt er bei mir. Ich werde ihn dir ſenden.“ Er trat in das Innere des Gebäudes, und bald darauf kam ein Mann heraus, der in den mittleren Jahren ſtand. Er trug zwar die gewöhnliche Kleidung dieſer Gegend, aber in ſeinem Weſen hatte er etwas an

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/536
Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 522. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/536>, abgerufen am 11.05.2024.