der, und du bist meine Schwester; aber deiner Jahre sind viel mehr als der meinigen; daher gebührt dir der Platz zu meiner rechten Seite. Komm und laß dich nieder!"
"Nur dann, wenn du es befiehlst."
"Ich befehle es!"
"So gehorche ich, Herr."
Sie ließ sich zu mir führen und setzte sich an meiner Seite nieder; dann verließ ihre Schwiegertochter das Ge- mach. Die Alte blickte mir lange forschend in das Gesicht; dann sagte sie:
"Chodih, du bist wirklich so, wie du mir beschrieben wurdest. -- Kennst du Menschen, bei deren Eintritt sich der Raum zu verfinstern scheint?"
"Ich habe viele solche Leute kennen gelernt."
"Kennst du auch solche Menschen, welche das Licht der Sonne mitzubringen scheinen? Wohin sie nur immer kommen, da wird es warm und hell. Gott hat ihnen die größte Gnade gegeben: ein freundliches Herz und ein fröh- liches Angesicht."
"Auch solche kenne ich; aber es giebt ihrer wenig."
"Du hast recht; aber du selbst gehörst zu ihnen."
"Du willst mir eine Höflichkeit sagen!"
"Nein, Herr. Ich bin ein altes Weib, welches ruhig nimmt, was Gott sendet; ich werde niemand eine Un- wahrheit sagen. Ich habe gehört, daß du ein großer Krieger bist; aber ich glaube, daß du deine besten Siege durch das Licht deines Angesichtes erringst. Ein solches Angesicht liebt man, auch wenn es häßlich ist, und alle, mit denen du zusammentriffst, werden dich lieb gewinnen."
"Oh, ich habe sehr viele Feinde!"
"Dann sind es böse Menschen. Ich habe dich noch nie gesehen, aber ich habe viel an dich gedacht, und meine Liebe hat dir gehört, noch ehe dich mein Auge erblickte."
der, und du biſt meine Schweſter; aber deiner Jahre ſind viel mehr als der meinigen; daher gebührt dir der Platz zu meiner rechten Seite. Komm und laß dich nieder!“
„Nur dann, wenn du es befiehlſt.“
„Ich befehle es!“
„So gehorche ich, Herr.“
Sie ließ ſich zu mir führen und ſetzte ſich an meiner Seite nieder; dann verließ ihre Schwiegertochter das Ge- mach. Die Alte blickte mir lange forſchend in das Geſicht; dann ſagte ſie:
„Chodih, du biſt wirklich ſo, wie du mir beſchrieben wurdeſt. — Kennſt du Menſchen, bei deren Eintritt ſich der Raum zu verfinſtern ſcheint?“
„Ich habe viele ſolche Leute kennen gelernt.“
„Kennſt du auch ſolche Menſchen, welche das Licht der Sonne mitzubringen ſcheinen? Wohin ſie nur immer kommen, da wird es warm und hell. Gott hat ihnen die größte Gnade gegeben: ein freundliches Herz und ein fröh- liches Angeſicht.“
„Auch ſolche kenne ich; aber es giebt ihrer wenig.“
„Du haſt recht; aber du ſelbſt gehörſt zu ihnen.“
„Du willſt mir eine Höflichkeit ſagen!“
„Nein, Herr. Ich bin ein altes Weib, welches ruhig nimmt, was Gott ſendet; ich werde niemand eine Un- wahrheit ſagen. Ich habe gehört, daß du ein großer Krieger biſt; aber ich glaube, daß du deine beſten Siege durch das Licht deines Angeſichtes erringſt. Ein ſolches Angeſicht liebt man, auch wenn es häßlich iſt, und alle, mit denen du zuſammentriffſt, werden dich lieb gewinnen.“
„Oh, ich habe ſehr viele Feinde!“
„Dann ſind es böſe Menſchen. Ich habe dich noch nie geſehen, aber ich habe viel an dich gedacht, und meine Liebe hat dir gehört, noch ehe dich mein Auge erblickte.“
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[515/0529]
der, und du biſt meine Schweſter; aber deiner Jahre ſind
viel mehr als der meinigen; daher gebührt dir der Platz
zu meiner rechten Seite. Komm und laß dich nieder!“
„Nur dann, wenn du es befiehlſt.“
„Ich befehle es!“
„So gehorche ich, Herr.“
Sie ließ ſich zu mir führen und ſetzte ſich an meiner
Seite nieder; dann verließ ihre Schwiegertochter das Ge-
mach. Die Alte blickte mir lange forſchend in das Geſicht;
dann ſagte ſie:
„Chodih, du biſt wirklich ſo, wie du mir beſchrieben
wurdeſt. — Kennſt du Menſchen, bei deren Eintritt ſich
der Raum zu verfinſtern ſcheint?“
„Ich habe viele ſolche Leute kennen gelernt.“
„Kennſt du auch ſolche Menſchen, welche das Licht
der Sonne mitzubringen ſcheinen? Wohin ſie nur immer
kommen, da wird es warm und hell. Gott hat ihnen die
größte Gnade gegeben: ein freundliches Herz und ein fröh-
liches Angeſicht.“
„Auch ſolche kenne ich; aber es giebt ihrer wenig.“
„Du haſt recht; aber du ſelbſt gehörſt zu ihnen.“
„Du willſt mir eine Höflichkeit ſagen!“
„Nein, Herr. Ich bin ein altes Weib, welches ruhig
nimmt, was Gott ſendet; ich werde niemand eine Un-
wahrheit ſagen. Ich habe gehört, daß du ein großer
Krieger biſt; aber ich glaube, daß du deine beſten Siege
durch das Licht deines Angeſichtes erringſt. Ein ſolches
Angeſicht liebt man, auch wenn es häßlich iſt, und alle,
mit denen du zuſammentriffſt, werden dich lieb gewinnen.“
„Oh, ich habe ſehr viele Feinde!“
„Dann ſind es böſe Menſchen. Ich habe dich noch
nie geſehen, aber ich habe viel an dich gedacht, und meine
Liebe hat dir gehört, noch ehe dich mein Auge erblickte.“
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 515. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/529>, abgerufen am 23.12.2024.
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