"Herr, die Mutter meines Mannes wünscht sehnlich, einmal dein Angesicht zu sehen und mit dir zu sprechen."
"Wo befindet sie sich? Ich werde gleich zu ihr gehen."
"O nein, Chodih. Du bist ein großer Emir; wir aber sind nur Frauen. Erlaube, daß sie zu dir kommt!"
"Ich erlaube es."
"Aber sie ist alt und schwach und kann nicht lange stehen -- -- --!"
"Sie wird sich setzen."
"Weißt du, daß in unserm Lande sich die Frau in Gegenwart solcher Herren nicht setzen darf?"
"Ich weiß es, aber ich werde es ihr dennoch er- lauben."
Sie ging. Nach einiger Zeit kam sie wieder herauf und führte eine Frau am Arme, deren Gestalt vom Alter weit vornüber gebeugt war. Ihr Gesicht hatte tiefe Run- zeln, aber ihre Augen blickten noch mit jugendlicher Schärfe umher.
"Gesegnet sei euer Eingang in das Haus meines Sohnes!" grüßte sie. "Welcher ist der Emir, den ich suche?"
"Ich bin es. Komm und laß dich nieder!"
Sie erhob abwehrend die Hand, als ich auf die Matte deutete, die in meiner Nähe lag.
"Nein, Chodih; es ziemt mir nicht, in deiner Nähe zu sitzen. Erlaube, daß ich mich in einer Ecke niederlasse!"
"Nein, das erlaube ich nicht," antwortete ich ihr. "Bist du eine Christin?"
"Ja, Herr."
"Auch ich bin ein Christ. Meine Religion sagt mir, daß wir vor Gott alle gleich sind, ob arm oder reich, vornehm oder niedrig, alt oder jung. Ich bin dein Bru-
Ich bejahte, und ſie ſagte darauf:
„Herr, die Mutter meines Mannes wünſcht ſehnlich, einmal dein Angeſicht zu ſehen und mit dir zu ſprechen.“
„Wo befindet ſie ſich? Ich werde gleich zu ihr gehen.“
„O nein, Chodih. Du biſt ein großer Emir; wir aber ſind nur Frauen. Erlaube, daß ſie zu dir kommt!“
„Ich erlaube es.“
„Aber ſie iſt alt und ſchwach und kann nicht lange ſtehen — — —!“
„Sie wird ſich ſetzen.“
„Weißt du, daß in unſerm Lande ſich die Frau in Gegenwart ſolcher Herren nicht ſetzen darf?“
„Ich weiß es, aber ich werde es ihr dennoch er- lauben.“
Sie ging. Nach einiger Zeit kam ſie wieder herauf und führte eine Frau am Arme, deren Geſtalt vom Alter weit vornüber gebeugt war. Ihr Geſicht hatte tiefe Run- zeln, aber ihre Augen blickten noch mit jugendlicher Schärfe umher.
„Geſegnet ſei euer Eingang in das Haus meines Sohnes!“ grüßte ſie. „Welcher iſt der Emir, den ich ſuche?“
„Ich bin es. Komm und laß dich nieder!“
Sie erhob abwehrend die Hand, als ich auf die Matte deutete, die in meiner Nähe lag.
„Nein, Chodih; es ziemt mir nicht, in deiner Nähe zu ſitzen. Erlaube, daß ich mich in einer Ecke niederlaſſe!“
„Nein, das erlaube ich nicht,“ antwortete ich ihr. „Biſt du eine Chriſtin?“
„Ja, Herr.“
„Auch ich bin ein Chriſt. Meine Religion ſagt mir, daß wir vor Gott alle gleich ſind, ob arm oder reich, vornehm oder niedrig, alt oder jung. Ich bin dein Bru-
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Ich bejahte, und ſie ſagte darauf:
„Herr, die Mutter meines Mannes wünſcht ſehnlich,
einmal dein Angeſicht zu ſehen und mit dir zu ſprechen.“
„Wo befindet ſie ſich? Ich werde gleich zu ihr gehen.“
„O nein, Chodih. Du biſt ein großer Emir; wir
aber ſind nur Frauen. Erlaube, daß ſie zu dir kommt!“
„Ich erlaube es.“
„Aber ſie iſt alt und ſchwach und kann nicht lange
ſtehen — — —!“
„Sie wird ſich ſetzen.“
„Weißt du, daß in unſerm Lande ſich die Frau in
Gegenwart ſolcher Herren nicht ſetzen darf?“
„Ich weiß es, aber ich werde es ihr dennoch er-
lauben.“
Sie ging. Nach einiger Zeit kam ſie wieder herauf
und führte eine Frau am Arme, deren Geſtalt vom Alter
weit vornüber gebeugt war. Ihr Geſicht hatte tiefe Run-
zeln, aber ihre Augen blickten noch mit jugendlicher
Schärfe umher.
„Geſegnet ſei euer Eingang in das Haus meines
Sohnes!“ grüßte ſie. „Welcher iſt der Emir, den ich
ſuche?“
„Ich bin es. Komm und laß dich nieder!“
Sie erhob abwehrend die Hand, als ich auf die Matte
deutete, die in meiner Nähe lag.
„Nein, Chodih; es ziemt mir nicht, in deiner Nähe
zu ſitzen. Erlaube, daß ich mich in einer Ecke niederlaſſe!“
„Nein, das erlaube ich nicht,“ antwortete ich ihr.
„Biſt du eine Chriſtin?“
„Ja, Herr.“
„Auch ich bin ein Chriſt. Meine Religion ſagt mir,
daß wir vor Gott alle gleich ſind, ob arm oder reich,
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 514. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/528>, abgerufen am 23.12.2024.
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