"Marah Durimeh!" rief ich überrascht. "Du kennst sie?"
"Ich kenne sie."
"Wo wohnt sie? Wo ist sie zu finden?"
"Ich weiß es nicht."
"Aber wenn sie deine Freundin ist, mußt du doch wissen, wo sie sich befindet."
"Sie ist bald hier, bald dort; sie gleicht dem Vogel, welcher bald auf diesem, bald auf jenem Zweige wohnt."
"Kommt sie oft zu dir?"
"Sie kommt nicht, wie die Sonne, regelmäßig zur be- stimmten Stunde, sondern sie kommt wie der erquickende Regen, bald hier, bald dort, bald spät und bald früh."
"Wann erwartest du sie wieder?"
"Sie kann noch heute in Lizan sein; sie kann aber auch erst nach Monden kommen. Vielleicht erscheint sie niemals wieder, denn auf ihrem Rücken lasten viel mehr Jahre, als auf dem meinigen."
Das klang alles so wunderbar, so geheimnisvoll, und ich mußte unwillkürlich an Ruh 'i Kulian, den ,Geist der Höhle', denken, von welchem die alte Marah Durimeh in ebenso geheimnisvoller Weise zu mir gesprochen hatte.
"So hat sie dich besucht, als sie von Amadijah kam?" fragte ich.
"Ja. Sie hat mir von dir erzählt; sie sagte, daß du vielleicht nach Lizan kommen würdest, und bat mich, für dich zu sorgen, als ob du mein eigner Sohn seist. Willst du mir dies erlauben?"
"Gern; nur mußt du auch meine Gefährten mit in deine Fürsorge einschließen."
„Wie iſt dies möglich?“
„Meine Freundin erzählte mir von dir.“
„Wer iſt dieſe Freundin?“
„Marah Durimeh.“
„Marah Durimeh!“ rief ich überraſcht. „Du kennſt ſie?“
„Ich kenne ſie.“
„Wo wohnt ſie? Wo iſt ſie zu finden?“
„Ich weiß es nicht.“
„Aber wenn ſie deine Freundin iſt, mußt du doch wiſſen, wo ſie ſich befindet.“
„Sie iſt bald hier, bald dort; ſie gleicht dem Vogel, welcher bald auf dieſem, bald auf jenem Zweige wohnt.“
„Kommt ſie oft zu dir?“
„Sie kommt nicht, wie die Sonne, regelmäßig zur be- ſtimmten Stunde, ſondern ſie kommt wie der erquickende Regen, bald hier, bald dort, bald ſpät und bald früh.“
„Wann erwarteſt du ſie wieder?“
„Sie kann noch heute in Lizan ſein; ſie kann aber auch erſt nach Monden kommen. Vielleicht erſcheint ſie niemals wieder, denn auf ihrem Rücken laſten viel mehr Jahre, als auf dem meinigen.“
Das klang alles ſo wunderbar, ſo geheimnisvoll, und ich mußte unwillkürlich an Ruh 'i Kulian, den ‚Geiſt der Höhle‘, denken, von welchem die alte Marah Durimeh in ebenſo geheimnisvoller Weiſe zu mir geſprochen hatte.
„So hat ſie dich beſucht, als ſie von Amadijah kam?“ fragte ich.
„Ja. Sie hat mir von dir erzählt; ſie ſagte, daß du vielleicht nach Lizan kommen würdeſt, und bat mich, für dich zu ſorgen, als ob du mein eigner Sohn ſeiſt. Willſt du mir dies erlauben?“
„Gern; nur mußt du auch meine Gefährten mit in deine Fürſorge einſchließen.“
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[516/0530]
„Wie iſt dies möglich?“
„Meine Freundin erzählte mir von dir.“
„Wer iſt dieſe Freundin?“
„Marah Durimeh.“
„Marah Durimeh!“ rief ich überraſcht. „Du kennſt ſie?“
„Ich kenne ſie.“
„Wo wohnt ſie? Wo iſt ſie zu finden?“
„Ich weiß es nicht.“
„Aber wenn ſie deine Freundin iſt, mußt du doch
wiſſen, wo ſie ſich befindet.“
„Sie iſt bald hier, bald dort; ſie gleicht dem Vogel,
welcher bald auf dieſem, bald auf jenem Zweige wohnt.“
„Kommt ſie oft zu dir?“
„Sie kommt nicht, wie die Sonne, regelmäßig zur be-
ſtimmten Stunde, ſondern ſie kommt wie der erquickende
Regen, bald hier, bald dort, bald ſpät und bald früh.“
„Wann erwarteſt du ſie wieder?“
„Sie kann noch heute in Lizan ſein; ſie kann aber
auch erſt nach Monden kommen. Vielleicht erſcheint ſie
niemals wieder, denn auf ihrem Rücken laſten viel mehr
Jahre, als auf dem meinigen.“
Das klang alles ſo wunderbar, ſo geheimnisvoll, und
ich mußte unwillkürlich an Ruh 'i Kulian, den ‚Geiſt der
Höhle‘, denken, von welchem die alte Marah Durimeh in
ebenſo geheimnisvoller Weiſe zu mir geſprochen hatte.
„So hat ſie dich beſucht, als ſie von Amadijah kam?“
fragte ich.
„Ja. Sie hat mir von dir erzählt; ſie ſagte, daß
du vielleicht nach Lizan kommen würdeſt, und bat mich,
für dich zu ſorgen, als ob du mein eigner Sohn ſeiſt.
Willſt du mir dies erlauben?“
„Gern; nur mußt du auch meine Gefährten mit in
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 516. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/530>, abgerufen am 23.12.2024.
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