Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

Bild:
<< vorherige Seite

verscheuchte, an denen diese Gegenden leiden. Das obere
Stockwerk des Gebäudes hatte keine Mauern; es bestand
einfach aus dem Dach, welches an den vier Ecken von je
einem Backsteinpfeiler getragen wurde. Dieser luftige Raum
bildete das Staatsgemach, in welches uns der Melek führte,
nachdem wir abgestiegen waren und ich mein Pferd Halef
übergeben hatte. Es lag da eine Menge zierlich geflochte-
ner Matten, auf denen wir es uns leidlich bequem
machen konnten.

Der Melek hatte natürlich jetzt nicht viel Zeit für
uns übrig; wir waren uns selbst überlassen. Bald aber
trat eine Frau herein, die einen starken, breiten, aus
Bast geflochtenen Teller trug, der mit allerlei Früchten
und Eßwaren belegt war. Ihr folgten zwei Mädchen,
im Alter von ungefähr zehn und dreizehn Jahren, und
trugen ähnliche, aber kleinere Präsentierbretter in den
Händen.

Alle drei grüßten sehr demütig, und dann stellten sie
die Speisen vor uns nieder. Die Kinder entfernten sich,
die Frau aber blieb noch stehen und musterte uns mit ver-
legener Miene.

"Hast du einen Wunsch?" fragte ich sie.

"Ja, Herr," antwortete sie.

"Sage ihn!"

"Welcher von euch ist der Emir aus dem Abendlande?"

"Es sind zwei solcher Emire hier: ich und dieser da."

Bei den letzten Worten deutete ich auf den Engländer.

"Ich meine denjenigen, welcher nicht nur ein Krie-
ger, sondern auch ein Arzt ist."

"Da werde ich wohl gemeint sein," lautete meine
Antwort.

"Bist du es, der in Amadijah ein vergiftetes Mäd-
chen gesund gemacht hat?"

II. 33

verſcheuchte, an denen dieſe Gegenden leiden. Das obere
Stockwerk des Gebäudes hatte keine Mauern; es beſtand
einfach aus dem Dach, welches an den vier Ecken von je
einem Backſteinpfeiler getragen wurde. Dieſer luftige Raum
bildete das Staatsgemach, in welches uns der Melek führte,
nachdem wir abgeſtiegen waren und ich mein Pferd Halef
übergeben hatte. Es lag da eine Menge zierlich geflochte-
ner Matten, auf denen wir es uns leidlich bequem
machen konnten.

Der Melek hatte natürlich jetzt nicht viel Zeit für
uns übrig; wir waren uns ſelbſt überlaſſen. Bald aber
trat eine Frau herein, die einen ſtarken, breiten, aus
Baſt geflochtenen Teller trug, der mit allerlei Früchten
und Eßwaren belegt war. Ihr folgten zwei Mädchen,
im Alter von ungefähr zehn und dreizehn Jahren, und
trugen ähnliche, aber kleinere Präſentierbretter in den
Händen.

Alle drei grüßten ſehr demütig, und dann ſtellten ſie
die Speiſen vor uns nieder. Die Kinder entfernten ſich,
die Frau aber blieb noch ſtehen und muſterte uns mit ver-
legener Miene.

„Haſt du einen Wunſch?“ fragte ich ſie.

„Ja, Herr,“ antwortete ſie.

„Sage ihn!“

„Welcher von euch iſt der Emir aus dem Abendlande?“

„Es ſind zwei ſolcher Emire hier: ich und dieſer da.“

Bei den letzten Worten deutete ich auf den Engländer.

„Ich meine denjenigen, welcher nicht nur ein Krie-
ger, ſondern auch ein Arzt iſt.“

„Da werde ich wohl gemeint ſein,“ lautete meine
Antwort.

„Biſt du es, der in Amadijah ein vergiftetes Mäd-
chen geſund gemacht hat?“

II. 33
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0527" n="513"/>
ver&#x017F;cheuchte, an denen die&#x017F;e Gegenden leiden. Das obere<lb/>
Stockwerk des Gebäudes hatte keine Mauern; es be&#x017F;tand<lb/>
einfach aus dem Dach, welches an den vier Ecken von je<lb/>
einem Back&#x017F;teinpfeiler getragen wurde. Die&#x017F;er luftige Raum<lb/>
bildete das Staatsgemach, in welches uns der Melek führte,<lb/>
nachdem wir abge&#x017F;tiegen waren und ich mein Pferd Halef<lb/>
übergeben hatte. Es lag da eine Menge zierlich geflochte-<lb/>
ner Matten, auf denen wir es uns leidlich bequem<lb/>
machen konnten.</p><lb/>
        <p>Der Melek hatte natürlich jetzt nicht viel Zeit für<lb/>
uns übrig; wir waren uns &#x017F;elb&#x017F;t überla&#x017F;&#x017F;en. Bald aber<lb/>
trat eine Frau herein, die einen &#x017F;tarken, breiten, aus<lb/>
Ba&#x017F;t geflochtenen Teller trug, der mit allerlei Früchten<lb/>
und Eßwaren belegt war. Ihr folgten zwei Mädchen,<lb/>
im Alter von ungefähr zehn und dreizehn Jahren, und<lb/>
trugen ähnliche, aber kleinere Prä&#x017F;entierbretter in den<lb/>
Händen.</p><lb/>
        <p>Alle drei grüßten &#x017F;ehr demütig, und dann &#x017F;tellten &#x017F;ie<lb/>
die Spei&#x017F;en vor uns nieder. Die Kinder entfernten &#x017F;ich,<lb/>
die Frau aber blieb noch &#x017F;tehen und mu&#x017F;terte uns mit ver-<lb/>
legener Miene.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ha&#x017F;t du einen Wun&#x017F;ch?&#x201C; fragte ich &#x017F;ie.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ja, Herr,&#x201C; antwortete &#x017F;ie.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Sage ihn!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Welcher von euch i&#x017F;t der Emir aus dem Abendlande?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Es &#x017F;ind zwei &#x017F;olcher Emire hier: ich und die&#x017F;er da.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Bei den letzten Worten deutete ich auf den Engländer.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ich meine denjenigen, welcher nicht nur ein Krie-<lb/>
ger, &#x017F;ondern auch ein Arzt i&#x017F;t.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Da werde ich wohl gemeint &#x017F;ein,&#x201C; lautete meine<lb/>
Antwort.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Bi&#x017F;t du es, der in Amadijah ein vergiftetes Mäd-<lb/>
chen ge&#x017F;und gemacht hat?&#x201C;</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">II. 33</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[513/0527] verſcheuchte, an denen dieſe Gegenden leiden. Das obere Stockwerk des Gebäudes hatte keine Mauern; es beſtand einfach aus dem Dach, welches an den vier Ecken von je einem Backſteinpfeiler getragen wurde. Dieſer luftige Raum bildete das Staatsgemach, in welches uns der Melek führte, nachdem wir abgeſtiegen waren und ich mein Pferd Halef übergeben hatte. Es lag da eine Menge zierlich geflochte- ner Matten, auf denen wir es uns leidlich bequem machen konnten. Der Melek hatte natürlich jetzt nicht viel Zeit für uns übrig; wir waren uns ſelbſt überlaſſen. Bald aber trat eine Frau herein, die einen ſtarken, breiten, aus Baſt geflochtenen Teller trug, der mit allerlei Früchten und Eßwaren belegt war. Ihr folgten zwei Mädchen, im Alter von ungefähr zehn und dreizehn Jahren, und trugen ähnliche, aber kleinere Präſentierbretter in den Händen. Alle drei grüßten ſehr demütig, und dann ſtellten ſie die Speiſen vor uns nieder. Die Kinder entfernten ſich, die Frau aber blieb noch ſtehen und muſterte uns mit ver- legener Miene. „Haſt du einen Wunſch?“ fragte ich ſie. „Ja, Herr,“ antwortete ſie. „Sage ihn!“ „Welcher von euch iſt der Emir aus dem Abendlande?“ „Es ſind zwei ſolcher Emire hier: ich und dieſer da.“ Bei den letzten Worten deutete ich auf den Engländer. „Ich meine denjenigen, welcher nicht nur ein Krie- ger, ſondern auch ein Arzt iſt.“ „Da werde ich wohl gemeint ſein,“ lautete meine Antwort. „Biſt du es, der in Amadijah ein vergiftetes Mäd- chen geſund gemacht hat?“ II. 33

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/527
Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 513. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/527>, abgerufen am 23.12.2024.