"Sie ist in ganz Amadijah bekannt. Sie kommt sehr selten, aber wenn sie kommt, so teilt sie Freude aus an alle Leute, die ihr begegnen. Auch sie glaubt an Omm Allah Marryam und ist ein Segen für viele. Aber da fällt mir ja ein, daß ich zu ihr muß!"
"Sie ist nicht mehr da."
"Ja, sie ist wieder abgereist; aber dennoch muß ich hin."
"Warum?"
"Ich muß sagen, daß du abreisest."
"Wer hat dies bestellt?"
"Der Vater des Mädchens, welches du gesund ge- macht hast."
"Bleibe hier!"
"Ich muß!"
"Mersinah, du bleibst! Ich befehle es dir!"
Mein Rufen half nichts; sie war bereits die Treppe hinab, und als ich an das Fenster trat, sah ich sie über den Platz eilen.
"Laß sie, Effendi!" sagte Selim Agha. "Sie hat es versprochen. Oh, warum hast du mir dies viele Geld in ihrer Gegenwart gegeben! Nun bekomme ich keinen Para davon!"
"Verwendet sie es für sich?"
"Nein; aber sie ist geizig, Effendi. Was sie nicht für uns und für die Gefangenen braucht, das versteckt sie, daß ich es nicht finden kann. Sie ist sehr stolz darauf, daß ich einmal viel Geld haben werde, wenn sie stirbt. Aber das ist nicht gut, da ich jetzt darunter leiden muß. Ich rauche den schlechtesten Tabak, und wenn ich einmal zum Juden gehe, so darf ich von seinen Medizinen nur die billigsten trinken. Und die, die ist nicht gut!"
Betrübt ging der wackere Agha der Arnauten von dannen, und ich folgte ihm hinab in den Hof, wo die
„Sie iſt in ganz Amadijah bekannt. Sie kommt ſehr ſelten, aber wenn ſie kommt, ſo teilt ſie Freude aus an alle Leute, die ihr begegnen. Auch ſie glaubt an Omm Allah Marryam und iſt ein Segen für viele. Aber da fällt mir ja ein, daß ich zu ihr muß!“
„Sie iſt nicht mehr da.“
„Ja, ſie iſt wieder abgereiſt; aber dennoch muß ich hin.“
„Warum?“
„Ich muß ſagen, daß du abreiſeſt.“
„Wer hat dies beſtellt?“
„Der Vater des Mädchens, welches du geſund ge- macht haſt.“
„Bleibe hier!“
„Ich muß!“
„Merſinah, du bleibſt! Ich befehle es dir!“
Mein Rufen half nichts; ſie war bereits die Treppe hinab, und als ich an das Fenſter trat, ſah ich ſie über den Platz eilen.
„Laß ſie, Effendi!“ ſagte Selim Agha. „Sie hat es verſprochen. Oh, warum haſt du mir dies viele Geld in ihrer Gegenwart gegeben! Nun bekomme ich keinen Para davon!“
„Verwendet ſie es für ſich?“
„Nein; aber ſie iſt geizig, Effendi. Was ſie nicht für uns und für die Gefangenen braucht, das verſteckt ſie, daß ich es nicht finden kann. Sie iſt ſehr ſtolz darauf, daß ich einmal viel Geld haben werde, wenn ſie ſtirbt. Aber das iſt nicht gut, da ich jetzt darunter leiden muß. Ich rauche den ſchlechteſten Tabak, und wenn ich einmal zum Juden gehe, ſo darf ich von ſeinen Medizinen nur die billigſten trinken. Und die, die iſt nicht gut!“
Betrübt ging der wackere Agha der Arnauten von dannen, und ich folgte ihm hinab in den Hof, wo die
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„Sie iſt in ganz Amadijah bekannt. Sie kommt ſehr
ſelten, aber wenn ſie kommt, ſo teilt ſie Freude aus an
alle Leute, die ihr begegnen. Auch ſie glaubt an Omm
Allah Marryam und iſt ein Segen für viele. Aber da
fällt mir ja ein, daß ich zu ihr muß!“
„Sie iſt nicht mehr da.“
„Ja, ſie iſt wieder abgereiſt; aber dennoch muß ich hin.“
„Warum?“
„Ich muß ſagen, daß du abreiſeſt.“
„Wer hat dies beſtellt?“
„Der Vater des Mädchens, welches du geſund ge-
macht haſt.“
„Bleibe hier!“
„Ich muß!“
„Merſinah, du bleibſt! Ich befehle es dir!“
Mein Rufen half nichts; ſie war bereits die Treppe
hinab, und als ich an das Fenſter trat, ſah ich ſie über
den Platz eilen.
„Laß ſie, Effendi!“ ſagte Selim Agha. „Sie hat
es verſprochen. Oh, warum haſt du mir dies viele Geld
in ihrer Gegenwart gegeben! Nun bekomme ich keinen
Para davon!“
„Verwendet ſie es für ſich?“
„Nein; aber ſie iſt geizig, Effendi. Was ſie nicht
für uns und für die Gefangenen braucht, das verſteckt ſie,
daß ich es nicht finden kann. Sie iſt ſehr ſtolz darauf,
daß ich einmal viel Geld haben werde, wenn ſie ſtirbt.
Aber das iſt nicht gut, da ich jetzt darunter leiden muß.
Ich rauche den ſchlechteſten Tabak, und wenn ich einmal
zum Juden gehe, ſo darf ich von ſeinen Medizinen nur
die billigſten trinken. Und die, die iſt nicht gut!“
Betrübt ging der wackere Agha der Arnauten von
dannen, und ich folgte ihm hinab in den Hof, wo die
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/380>, abgerufen am 25.11.2024.
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