Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Martin, Marie: Soll die christliche Frau studieren? In: Martin, Marie et al.: Soll die christliche Frau studieren? Die Hausindustrie der Frauen in Berlin. Der neue Gewerkverein der Heimarbeiterinnen für Kleider- und Wäschekonfektion. Berlin, 1901 (= Hefte der Freien Kirchlich-Sozialen Konferenz, Bd. 17). S. 3–21.

Bild:
<< vorherige Seite

waren, wo die Reformation dem Menschen, Mann und
Weib, soviel Veranlassung zum Denken- und Erkennenwollen
gab. Daß man sich aber ernstlich fragt, ob nicht das wis-
senschaftliche Studium ein regelrechter Bildungsgang, die
entsprechenden Berufe ein Recht für die Frau werden
müßten, das ist eine Kulturerscheinung der letzten Jahr-
zehnte, besonders in Deutschland. Denn eine Wirkung kann
nicht eher da sein, als ihre Ursache, und einige der Gründe
für unser Streben sind erst in unserer Zeit klar hervorge-
treten.

Diese Ursachen oder Gründe eingehend zu erforschen,
ihre weitverzweigten Wurzeln bloßzulegen und den Boden
zu untersuchen, in dem sie wachsen konnten, würde weit
meine Aufgabe überschreiten. Jch kann nur kurz darlegen,
wie unsere Frauenforderung: "Die Bahn frei für unser
Wissen und Können!" so allgemein werden konnte, daß
man jetzt mit ihr rechnen muß. Die Würdigung dieser
Gründe wird sich richten nach den Lebensverhältnissen, der
ganzen Lebensauffassung und der sittlichen und geistigen
Höhe des Beurteilers.

1. Die Gründe.

Durch die wirtschaftlichen Umwälzungen des modernen
Lebens entstand der Notstand weiter Frauenkreise, die dem
Leben mit leeren Händen gegenüberstanden, weil sie "für
das Haus" erzogen waren und dann kein "Haus" hatten.
Dadurch ist, für den guten Mittelstand besonders, die Frage
einer anderen Frauenbildung erst lebendig geworden. Unter
der billigen Lächerlichkeit des "späten Mädchens", der "bissi-
gen alten Jungfer" verbirgt sich viel Elend, das mit dem
Vorwurf der "Heiratssehnsucht der höheren Tochter" nicht
abgethan ist. Man sucht und findet immer mehr Berufe,
die alleinstehenden Frauen eine gesicherte Existenz geben.
Auch die Forderung ist nicht als eitel oder streberhaft
abzuweisen, daß diese Berufe eine gesicherte Stellung in
der gesellschaftlichen Sphäre garantieren, der man von
Haus an angehört. Ob diese der Lehrerin, der Gesellschafts-
dame, der Stütze der Hausfrau immer gewährt wurde,
will ich hier nicht fragen. Jedenfalls gab es für den großen

waren, wo die Reformation dem Menschen, Mann und
Weib, soviel Veranlassung zum Denken- und Erkennenwollen
gab. Daß man sich aber ernstlich fragt, ob nicht das wis-
senschaftliche Studium ein regelrechter Bildungsgang, die
entsprechenden Berufe ein Recht für die Frau werden
müßten, das ist eine Kulturerscheinung der letzten Jahr-
zehnte, besonders in Deutschland. Denn eine Wirkung kann
nicht eher da sein, als ihre Ursache, und einige der Gründe
für unser Streben sind erst in unserer Zeit klar hervorge-
treten.

Diese Ursachen oder Gründe eingehend zu erforschen,
ihre weitverzweigten Wurzeln bloßzulegen und den Boden
zu untersuchen, in dem sie wachsen konnten, würde weit
meine Aufgabe überschreiten. Jch kann nur kurz darlegen,
wie unsere Frauenforderung: „Die Bahn frei für unser
Wissen und Können!“ so allgemein werden konnte, daß
man jetzt mit ihr rechnen muß. Die Würdigung dieser
Gründe wird sich richten nach den Lebensverhältnissen, der
ganzen Lebensauffassung und der sittlichen und geistigen
Höhe des Beurteilers.

1. Die Gründe.

Durch die wirtschaftlichen Umwälzungen des modernen
Lebens entstand der Notstand weiter Frauenkreise, die dem
Leben mit leeren Händen gegenüberstanden, weil sie „für
das Haus“ erzogen waren und dann kein „Haus“ hatten.
Dadurch ist, für den guten Mittelstand besonders, die Frage
einer anderen Frauenbildung erst lebendig geworden. Unter
der billigen Lächerlichkeit des „späten Mädchens“, der „bissi-
gen alten Jungfer“ verbirgt sich viel Elend, das mit dem
Vorwurf der „Heiratssehnsucht der höheren Tochter“ nicht
abgethan ist. Man sucht und findet immer mehr Berufe,
die alleinstehenden Frauen eine gesicherte Existenz geben.
Auch die Forderung ist nicht als eitel oder streberhaft
abzuweisen, daß diese Berufe eine gesicherte Stellung in
der gesellschaftlichen Sphäre garantieren, der man von
Haus an angehört. Ob diese der Lehrerin, der Gesellschafts-
dame, der Stütze der Hausfrau immer gewährt wurde,
will ich hier nicht fragen. Jedenfalls gab es für den großen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0004" n="4"/>
waren, wo die Reformation dem Menschen, Mann                         und<lb/>
Weib, soviel Veranlassung zum Denken- und Erkennenwollen<lb/>
gab.                         Daß man sich aber ernstlich fragt, ob nicht das wis-<lb/>
senschaftliche                         Studium ein regelrechter Bildungsgang, die<lb/>
entsprechenden Berufe ein                         Recht für die Frau werden<lb/>
müßten, das ist eine Kulturerscheinung der                         letzten Jahr-<lb/>
zehnte, besonders in Deutschland. Denn eine Wirkung                         kann<lb/>
nicht eher da sein, als ihre Ursache, und einige der Gründe<lb/>
für unser Streben sind erst in unserer Zeit klar hervorge-<lb/>
treten.</p><lb/>
          <p>Diese Ursachen oder Gründe eingehend zu erforschen,<lb/>
ihre weitverzweigten                         Wurzeln bloßzulegen und den Boden<lb/>
zu untersuchen, in dem sie wachsen                         konnten, würde weit<lb/>
meine Aufgabe überschreiten. Jch kann nur kurz                         darlegen,<lb/>
wie unsere Frauenforderung: &#x201E;Die Bahn frei für                         unser<lb/>
Wissen und Können!&#x201C; so allgemein werden konnte, daß<lb/>
man jetzt mit ihr rechnen muß. Die Würdigung dieser<lb/>
Gründe wird sich                         richten nach den Lebensverhältnissen, der<lb/>
ganzen Lebensauffassung und                         der sittlichen und geistigen<lb/>
Höhe des Beurteilers.</p><lb/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#g">1. Die Gründe</hi>.</head><lb/>
            <p>Durch die wirtschaftlichen Umwälzungen des modernen<lb/>
Lebens entstand                             der Notstand weiter Frauenkreise, die dem<lb/>
Leben mit leeren Händen                             gegenüberstanden, weil sie &#x201E;für<lb/>
das Haus&#x201C; erzogen                             waren und dann kein &#x201E;Haus&#x201C; hatten.<lb/>
Dadurch ist, für                             den guten Mittelstand besonders, die Frage<lb/>
einer anderen                             Frauenbildung erst lebendig geworden. Unter<lb/>
der billigen                             Lächerlichkeit des &#x201E;späten Mädchens&#x201C;, der                             &#x201E;bissi-<lb/>
gen alten Jungfer&#x201C; verbirgt sich viel Elend,                             das mit dem<lb/>
Vorwurf der &#x201E;Heiratssehnsucht der höheren                             Tochter&#x201C; nicht<lb/>
abgethan ist. Man sucht und findet immer mehr                             Berufe,<lb/>
die alleinstehenden Frauen eine gesicherte Existenz                             geben.<lb/>
Auch <hi rendition="#g">die</hi> Forderung ist nicht als                             eitel oder streberhaft<lb/>
abzuweisen, daß diese Berufe eine gesicherte                             Stellung in<lb/><hi rendition="#g">der</hi> gesellschaftlichen Sphäre garantieren, der                             man von<lb/>
Haus an angehört. Ob diese der Lehrerin, der                             Gesellschafts-<lb/>
dame, der Stütze der Hausfrau immer gewährt                             wurde,<lb/>
will ich hier nicht fragen. Jedenfalls gab es für den großen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0004] waren, wo die Reformation dem Menschen, Mann und Weib, soviel Veranlassung zum Denken- und Erkennenwollen gab. Daß man sich aber ernstlich fragt, ob nicht das wis- senschaftliche Studium ein regelrechter Bildungsgang, die entsprechenden Berufe ein Recht für die Frau werden müßten, das ist eine Kulturerscheinung der letzten Jahr- zehnte, besonders in Deutschland. Denn eine Wirkung kann nicht eher da sein, als ihre Ursache, und einige der Gründe für unser Streben sind erst in unserer Zeit klar hervorge- treten. Diese Ursachen oder Gründe eingehend zu erforschen, ihre weitverzweigten Wurzeln bloßzulegen und den Boden zu untersuchen, in dem sie wachsen konnten, würde weit meine Aufgabe überschreiten. Jch kann nur kurz darlegen, wie unsere Frauenforderung: „Die Bahn frei für unser Wissen und Können!“ so allgemein werden konnte, daß man jetzt mit ihr rechnen muß. Die Würdigung dieser Gründe wird sich richten nach den Lebensverhältnissen, der ganzen Lebensauffassung und der sittlichen und geistigen Höhe des Beurteilers. 1. Die Gründe. Durch die wirtschaftlichen Umwälzungen des modernen Lebens entstand der Notstand weiter Frauenkreise, die dem Leben mit leeren Händen gegenüberstanden, weil sie „für das Haus“ erzogen waren und dann kein „Haus“ hatten. Dadurch ist, für den guten Mittelstand besonders, die Frage einer anderen Frauenbildung erst lebendig geworden. Unter der billigen Lächerlichkeit des „späten Mädchens“, der „bissi- gen alten Jungfer“ verbirgt sich viel Elend, das mit dem Vorwurf der „Heiratssehnsucht der höheren Tochter“ nicht abgethan ist. Man sucht und findet immer mehr Berufe, die alleinstehenden Frauen eine gesicherte Existenz geben. Auch die Forderung ist nicht als eitel oder streberhaft abzuweisen, daß diese Berufe eine gesicherte Stellung in der gesellschaftlichen Sphäre garantieren, der man von Haus an angehört. Ob diese der Lehrerin, der Gesellschafts- dame, der Stütze der Hausfrau immer gewährt wurde, will ich hier nicht fragen. Jedenfalls gab es für den großen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Frauenstudium, betreut von Andreas Neumann und Anna Pfundt, FSU Jena und JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2022-07-13T16:21:42Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt, Dennis Dietrich: Bearbeitung der digitalen Edition. (2022-07-13T16:21:42Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frau_1901
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frau_1901/4
Zitationshilfe: Martin, Marie: Soll die christliche Frau studieren? In: Martin, Marie et al.: Soll die christliche Frau studieren? Die Hausindustrie der Frauen in Berlin. Der neue Gewerkverein der Heimarbeiterinnen für Kleider- und Wäschekonfektion. Berlin, 1901 (= Hefte der Freien Kirchlich-Sozialen Konferenz, Bd. 17). S. 3–21, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frau_1901/4>, abgerufen am 24.04.2024.