Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Martin, Marie: Soll die christliche Frau studieren? In: Martin, Marie et al.: Soll die christliche Frau studieren? Die Hausindustrie der Frauen in Berlin. Der neue Gewerkverein der Heimarbeiterinnen für Kleider- und Wäschekonfektion. Berlin, 1901 (= Hefte der Freien Kirchlich-Sozialen Konferenz, Bd. 17). S. 3–21.

Bild:
<< vorherige Seite
letzte Seite

geworden wäre. Wie unnatürlich auch: bei der Arbeit
trennen wir die heranwachsenden Geschlechter wie Funke
und Pulverfaß - beim Vergnügen werfen wir sie einander
in die Arme! Jch hatte einst selbst den Konfirmandenunter-
richt in einer kleinen Gemeinde mit den Knaben zusammen;
ihnen war eine besonders dumme Antwort vor uns gerade
so unleidlich, als uns vor ihnen; aber unsere Jdeale fanden
wir gegenseitig nicht ineinander, während in größeren Ge-
meinden bei getrenntem Knaben- und Mädchenunterricht
diese Trennung in der Regel durch allerhand Liebeleien
gewürzt wird. Wie sehr die künstliche Absperrung die Phan-
tasie reizt und erniedrigt, sehen wir an allen den Völkern,
die die Frauen verschleiern und gefangen halten in sicheren
Harems, sie dafür aber auch nur als Geschlechtswesen
rechnen.

Aber diese goldenen Träume einer gemeinsam freien
Erziehung haben so viel beachtenswerte und sachverständige
Gegner, daß man sie kaum auszusprechen wagt. Jnzwischen
hängen die nötigen Wissensfrüchte für uns nur an den er-
reichbaren Aesten der Gvmnasialkurse. Je mehr Kreise ihnen
das Jnteresse zuwenden, um so besser für die Sache des
Frauenstudiums.

Eine große Stärkung für die gute Sache wird es sein,
wenn auch die ausgesprochen christlichen Kreise mit in den
Ring treten und an der Errichtung immer neuer Vorbe-
reitungsanstalten sich beteiligen wollen. Sie arbeiten damit
gewiß im Sinne Christi, der tüchtige Arbeiter in seinem
Weinberg nötig hat und auch die Frau geschickt sehen möchte
zu jedem Werk, das in der Liebe geschieht.

Wir Frauen aber wollen bei allem Vorwärtsstreben
nicht das Wort vergessen: "Und wenn ich weissagen könnte
und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis - und
hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts, und es wäre mir
nichts nütze.


geworden wäre. Wie unnatürlich auch: bei der Arbeit
trennen wir die heranwachsenden Geschlechter wie Funke
und Pulverfaß – beim Vergnügen werfen wir sie einander
in die Arme! Jch hatte einst selbst den Konfirmandenunter-
richt in einer kleinen Gemeinde mit den Knaben zusammen;
ihnen war eine besonders dumme Antwort vor uns gerade
so unleidlich, als uns vor ihnen; aber unsere Jdeale fanden
wir gegenseitig nicht ineinander, während in größeren Ge-
meinden bei getrenntem Knaben- und Mädchenunterricht
diese Trennung in der Regel durch allerhand Liebeleien
gewürzt wird. Wie sehr die künstliche Absperrung die Phan-
tasie reizt und erniedrigt, sehen wir an allen den Völkern,
die die Frauen verschleiern und gefangen halten in sicheren
Harems, sie dafür aber auch nur als Geschlechtswesen
rechnen.

Aber diese goldenen Träume einer gemeinsam freien
Erziehung haben so viel beachtenswerte und sachverständige
Gegner, daß man sie kaum auszusprechen wagt. Jnzwischen
hängen die nötigen Wissensfrüchte für uns nur an den er-
reichbaren Aesten der Gvmnasialkurse. Je mehr Kreise ihnen
das Jnteresse zuwenden, um so besser für die Sache des
Frauenstudiums.

Eine große Stärkung für die gute Sache wird es sein,
wenn auch die ausgesprochen christlichen Kreise mit in den
Ring treten und an der Errichtung immer neuer Vorbe-
reitungsanstalten sich beteiligen wollen. Sie arbeiten damit
gewiß im Sinne Christi, der tüchtige Arbeiter in seinem
Weinberg nötig hat und auch die Frau geschickt sehen möchte
zu jedem Werk, das in der Liebe geschieht.

Wir Frauen aber wollen bei allem Vorwärtsstreben
nicht das Wort vergessen: „Und wenn ich weissagen könnte
und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis – und
hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts, und es wäre mir
nichts nütze.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0021" n="21"/>
geworden wäre. Wie unnatürlich auch: bei der Arbeit<lb/>
trennen wir die                         heranwachsenden Geschlechter wie Funke<lb/>
und Pulverfaß &#x2013; beim                         Vergnügen werfen wir sie einander<lb/>
in die Arme! Jch hatte einst selbst                         den Konfirmandenunter-<lb/>
richt in einer kleinen Gemeinde mit den Knaben                         zusammen;<lb/>
ihnen war eine besonders dumme Antwort vor uns gerade<lb/>
so                         unleidlich, als uns vor ihnen; aber unsere Jdeale fanden<lb/>
wir                         gegenseitig nicht ineinander, während in größeren Ge-<lb/>
meinden bei                         getrenntem Knaben- und Mädchenunterricht<lb/>
diese Trennung in der Regel                         durch allerhand Liebeleien<lb/>
gewürzt wird. Wie sehr die künstliche                         Absperrung die Phan-<lb/>
tasie reizt und erniedrigt, sehen wir an allen den                         Völkern,<lb/>
die die Frauen verschleiern und gefangen halten in                         sicheren<lb/>
Harems, sie dafür aber auch nur als Geschlechtswesen<lb/>
rechnen.</p><lb/>
          <p>Aber diese goldenen Träume einer gemeinsam freien<lb/>
Erziehung haben so                         viel beachtenswerte und sachverständige<lb/>
Gegner, daß man sie kaum                         auszusprechen wagt. Jnzwischen<lb/>
hängen die nötigen Wissensfrüchte für                         uns nur an den er-<lb/>
reichbaren Aesten der Gvmnasialkurse. Je mehr Kreise                         ihnen<lb/>
das Jnteresse zuwenden, um so besser für die Sache des<lb/>
Frauenstudiums.</p><lb/>
          <p>Eine große Stärkung für die gute Sache wird es sein,<lb/>
wenn auch die                         ausgesprochen christlichen Kreise mit in den<lb/>
Ring treten und an der                         Errichtung immer neuer Vorbe-<lb/>
reitungsanstalten sich beteiligen wollen.                         Sie arbeiten damit<lb/>
gewiß im Sinne Christi, der tüchtige Arbeiter in                         seinem<lb/>
Weinberg nötig hat und auch die Frau geschickt sehen möchte<lb/>
zu jedem Werk, das in der Liebe geschieht.</p><lb/>
          <p>Wir Frauen aber wollen bei allem Vorwärtsstreben<lb/>
nicht das Wort                         vergessen: &#x201E;Und wenn ich weissagen könnte<lb/>
und wüßte alle                         Geheimnisse und alle Erkenntnis &#x2013; und<lb/>
hätte der Liebe nicht, so                         wäre ich nichts, und es wäre mir<lb/>
nichts nütze.</p>
          <byline>M. Martin.</byline><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[21/0021] geworden wäre. Wie unnatürlich auch: bei der Arbeit trennen wir die heranwachsenden Geschlechter wie Funke und Pulverfaß – beim Vergnügen werfen wir sie einander in die Arme! Jch hatte einst selbst den Konfirmandenunter- richt in einer kleinen Gemeinde mit den Knaben zusammen; ihnen war eine besonders dumme Antwort vor uns gerade so unleidlich, als uns vor ihnen; aber unsere Jdeale fanden wir gegenseitig nicht ineinander, während in größeren Ge- meinden bei getrenntem Knaben- und Mädchenunterricht diese Trennung in der Regel durch allerhand Liebeleien gewürzt wird. Wie sehr die künstliche Absperrung die Phan- tasie reizt und erniedrigt, sehen wir an allen den Völkern, die die Frauen verschleiern und gefangen halten in sicheren Harems, sie dafür aber auch nur als Geschlechtswesen rechnen. Aber diese goldenen Träume einer gemeinsam freien Erziehung haben so viel beachtenswerte und sachverständige Gegner, daß man sie kaum auszusprechen wagt. Jnzwischen hängen die nötigen Wissensfrüchte für uns nur an den er- reichbaren Aesten der Gvmnasialkurse. Je mehr Kreise ihnen das Jnteresse zuwenden, um so besser für die Sache des Frauenstudiums. Eine große Stärkung für die gute Sache wird es sein, wenn auch die ausgesprochen christlichen Kreise mit in den Ring treten und an der Errichtung immer neuer Vorbe- reitungsanstalten sich beteiligen wollen. Sie arbeiten damit gewiß im Sinne Christi, der tüchtige Arbeiter in seinem Weinberg nötig hat und auch die Frau geschickt sehen möchte zu jedem Werk, das in der Liebe geschieht. Wir Frauen aber wollen bei allem Vorwärtsstreben nicht das Wort vergessen: „Und wenn ich weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis – und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts, und es wäre mir nichts nütze. M. Martin.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Frauenstudium, betreut von Andreas Neumann und Anna Pfundt, FSU Jena und JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2022-07-13T16:21:42Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt, Dennis Dietrich: Bearbeitung der digitalen Edition. (2022-07-13T16:21:42Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frau_1901
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frau_1901/21
Zitationshilfe: Martin, Marie: Soll die christliche Frau studieren? In: Martin, Marie et al.: Soll die christliche Frau studieren? Die Hausindustrie der Frauen in Berlin. Der neue Gewerkverein der Heimarbeiterinnen für Kleider- und Wäschekonfektion. Berlin, 1901 (= Hefte der Freien Kirchlich-Sozialen Konferenz, Bd. 17). S. 3–21, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frau_1901/21>, abgerufen am 24.11.2024.