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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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der vollständigen diaton. chromat. enharm. Tonleiter.
Wenn der Hr. K. dafür hält, daß dergleichen Jntervalle nicht
anders als disharmonisch seyn können, so versteht er durch
diesen Ausdruck vermuthlich, daß diese Jntervalle zur Har-
monie ungeschickt
sind. Aber hat man bey der Ausübung
der Musik es bloß mit der Harmonie zu thun? Die Melodie ist
ja auch ein Theil derselben. Die verminderte Terz ist schon vor
beynahe hundert Jahren in der Melodie gebraucht worden,
und noch zur Zeit können sich unsere Ohren nicht völlig an den
harmonischen Gebrauch derselben gewöhnen. -- Lassen sich fer-
ner alle Freiheiten der durchgehenden und wechselnden Noten
aus den Gesetzen der Harmonie erklären? Sollten endlich alle
mögliche harmonische Künste, oder wenn man will, Künste-
leyen schon erfunden, und keine einzige mehr zu erfinden seyn?
Das einzige, was ich in Ansehung des zu erklärenden Gebrauchs
der neuen Jntervalle wünschte, ist dieses, daß man dabey eine
aus nicht mehr als zwölf Tasten bestehende Clavieroctave, und
kein sabbatinisches oder ähnliches Jnstrument vor Augen ha-
ben möchte; und sollten da nicht viele neue Jntervalle zu en-
harmonischen Täuschungen, (und dieses wäre doch ein Ge-
brauch derselben in der Harmonie,) bequem gemacht werden
können? Dieses ist ohne Zweifel gewiß, und ich würde mir die
Freiheit nehmen, den berühmten Herrn Capellmeister Scheibe,
einen unserer ersten Jntervallenschöpfer, aufzufordern, seine
theoretischen Erfindungen in diesem Punkt praktisch zu bear-
beiten, wenn ich nicht wüßte, daß er ein gemeinnütziger wich-
tiger Werk unter der Feder hätte, von welchem jedermann wün-
schet, daß die Theile desselben so geschwinde hinter einander
folgen möchten, als man alle seine Schriften mit Vergnügen
und Nutzen lieset. Die Verschiedenheit unserer Meinungen
über einige Artikel der Musik ist um so weniger im Stande,
meiner Hochachtung für diesen gelehrten musikalischen Schrift-
steller etwas zu entziehen, da derselbe seine Hypothesen mit
einem Anstande vorzutragen pfleget, der nur Personen von
würklichen Verdiensten eigen ist, und nichts beleidigendes für
diejenigen enthält, die einer andern Meinung zugethan sind.

§. 107.

Sobald man mehr Terzen als die große und kleine, und
mehr Quinten als die vollkommne annimt, so folget natürli-

cher
F 4

der vollſtaͤndigen diaton. chromat. enharm. Tonleiter.
Wenn der Hr. K. dafuͤr haͤlt, daß dergleichen Jntervalle nicht
anders als disharmoniſch ſeyn koͤnnen, ſo verſteht er durch
dieſen Ausdruck vermuthlich, daß dieſe Jntervalle zur Har-
monie ungeſchickt
ſind. Aber hat man bey der Ausuͤbung
der Muſik es bloß mit der Harmonie zu thun? Die Melodie iſt
ja auch ein Theil derſelben. Die verminderte Terz iſt ſchon vor
beynahe hundert Jahren in der Melodie gebraucht worden,
und noch zur Zeit koͤnnen ſich unſere Ohren nicht voͤllig an den
harmoniſchen Gebrauch derſelben gewoͤhnen. — Laſſen ſich fer-
ner alle Freiheiten der durchgehenden und wechſelnden Noten
aus den Geſetzen der Harmonie erklaͤren? Sollten endlich alle
moͤgliche harmoniſche Kuͤnſte, oder wenn man will, Kuͤnſte-
leyen ſchon erfunden, und keine einzige mehr zu erfinden ſeyn?
Das einzige, was ich in Anſehung des zu erklaͤrenden Gebrauchs
der neuen Jntervalle wuͤnſchte, iſt dieſes, daß man dabey eine
aus nicht mehr als zwoͤlf Taſten beſtehende Clavieroctave, und
kein ſabbatiniſches oder aͤhnliches Jnſtrument vor Augen ha-
ben moͤchte; und ſollten da nicht viele neue Jntervalle zu en-
harmoniſchen Taͤuſchungen, (und dieſes waͤre doch ein Ge-
brauch derſelben in der Harmonie,) bequem gemacht werden
koͤnnen? Dieſes iſt ohne Zweifel gewiß, und ich wuͤrde mir die
Freiheit nehmen, den beruͤhmten Herrn Capellmeiſter Scheibe,
einen unſerer erſten Jntervallenſchoͤpfer, aufzufordern, ſeine
theoretiſchen Erfindungen in dieſem Punkt praktiſch zu bear-
beiten, wenn ich nicht wuͤßte, daß er ein gemeinnuͤtziger wich-
tiger Werk unter der Feder haͤtte, von welchem jedermann wuͤn-
ſchet, daß die Theile deſſelben ſo geſchwinde hinter einander
folgen moͤchten, als man alle ſeine Schriften mit Vergnuͤgen
und Nutzen lieſet. Die Verſchiedenheit unſerer Meinungen
uͤber einige Artikel der Muſik iſt um ſo weniger im Stande,
meiner Hochachtung fuͤr dieſen gelehrten muſikaliſchen Schrift-
ſteller etwas zu entziehen, da derſelbe ſeine Hypotheſen mit
einem Anſtande vorzutragen pfleget, der nur Perſonen von
wuͤrklichen Verdienſten eigen iſt, und nichts beleidigendes fuͤr
diejenigen enthaͤlt, die einer andern Meinung zugethan ſind.

§. 107.

Sobald man mehr Terzen als die große und kleine, und
mehr Quinten als die vollkommne annimt, ſo folget natuͤrli-

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[87/0107] der vollſtaͤndigen diaton. chromat. enharm. Tonleiter. Wenn der Hr. K. dafuͤr haͤlt, daß dergleichen Jntervalle nicht anders als disharmoniſch ſeyn koͤnnen, ſo verſteht er durch dieſen Ausdruck vermuthlich, daß dieſe Jntervalle zur Har- monie ungeſchickt ſind. Aber hat man bey der Ausuͤbung der Muſik es bloß mit der Harmonie zu thun? Die Melodie iſt ja auch ein Theil derſelben. Die verminderte Terz iſt ſchon vor beynahe hundert Jahren in der Melodie gebraucht worden, und noch zur Zeit koͤnnen ſich unſere Ohren nicht voͤllig an den harmoniſchen Gebrauch derſelben gewoͤhnen. — Laſſen ſich fer- ner alle Freiheiten der durchgehenden und wechſelnden Noten aus den Geſetzen der Harmonie erklaͤren? Sollten endlich alle moͤgliche harmoniſche Kuͤnſte, oder wenn man will, Kuͤnſte- leyen ſchon erfunden, und keine einzige mehr zu erfinden ſeyn? Das einzige, was ich in Anſehung des zu erklaͤrenden Gebrauchs der neuen Jntervalle wuͤnſchte, iſt dieſes, daß man dabey eine aus nicht mehr als zwoͤlf Taſten beſtehende Clavieroctave, und kein ſabbatiniſches oder aͤhnliches Jnſtrument vor Augen ha- ben moͤchte; und ſollten da nicht viele neue Jntervalle zu en- harmoniſchen Taͤuſchungen, (und dieſes waͤre doch ein Ge- brauch derſelben in der Harmonie,) bequem gemacht werden koͤnnen? Dieſes iſt ohne Zweifel gewiß, und ich wuͤrde mir die Freiheit nehmen, den beruͤhmten Herrn Capellmeiſter Scheibe, einen unſerer erſten Jntervallenſchoͤpfer, aufzufordern, ſeine theoretiſchen Erfindungen in dieſem Punkt praktiſch zu bear- beiten, wenn ich nicht wuͤßte, daß er ein gemeinnuͤtziger wich- tiger Werk unter der Feder haͤtte, von welchem jedermann wuͤn- ſchet, daß die Theile deſſelben ſo geſchwinde hinter einander folgen moͤchten, als man alle ſeine Schriften mit Vergnuͤgen und Nutzen lieſet. Die Verſchiedenheit unſerer Meinungen uͤber einige Artikel der Muſik iſt um ſo weniger im Stande, meiner Hochachtung fuͤr dieſen gelehrten muſikaliſchen Schrift- ſteller etwas zu entziehen, da derſelbe ſeine Hypotheſen mit einem Anſtande vorzutragen pfleget, der nur Perſonen von wuͤrklichen Verdienſten eigen iſt, und nichts beleidigendes fuͤr diejenigen enthaͤlt, die einer andern Meinung zugethan ſind. §. 107. Sobald man mehr Terzen als die große und kleine, und mehr Quinten als die vollkommne annimt, ſo folget natuͤrli- cher F 4

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/107>, abgerufen am 22.11.2024.