Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite

Zwölfter Abschnitt. Entstehung
die Töne berechnete. Jn der That kömmt es auch nur der
Praxi zu, musikalische Jntervalle zu erfinden, der Theorie
hingegen, die Verhältnisse derselben nach vernünftigen Grund-
sätzen zu reguliren. Jst die übermäßige Sexte oder das Verhält-
niß derselben eher entdecket worden? und wodurch ist man also
wohl auf dieses Jntervall gekommen? Durch Hülfe des No-
tenplans; und sind unsre eingebildte Enharmonien etwas an-
ders als eine Wirkung desselben? Das Monochord ist gewiß
unschuldig daran. Kann man übrigens durch Hülfe des No-
tenplans ein oder zwey neue Jntervalle erfinden, so ist der na-
türlichste Schluß dieser, daß, wenn mehrere möglich sind, und
sie sind es ohne Zweifel bis auf einen gewissen Punkt, solche
auch dadurch gefunden werden können.

§. 105.

Jch glaube gerne, daß Notensysteme existiren können, ver-
mittelst welcher es nicht möglich ist, Jntervalle zu erfinden.
Aber Notensysteme von dieser Art müßen nicht mit dem bey
uns gebräuchlichen vermenget werden, und es ist schlechter-
dings zu behaupten, daß, wenn man von der Beschaffenheit
der griechischen und gewisser andern alten Notensysteme, oder
der von gewissen berühmten Männern neuer Zeit in Vorschlag
gebrachten Notensysteme, dergleichen mir eines vorzüglich be-
kannt ist, auf die Beschaffenheit des unsrigen schliessen wollte,
man zeigen würde, daß man mit den Eigenschaften desselben
nicht hinlänglich bekannt wäre. Gewißlich kann kein vortref-
licher, und der ganzen Natur unserer Musik in aller Rücksicht
angemeßner Linien- oder Notensystem erdacht werden, als das
gegenwärtige. -- Jch glaube annoch, daß der Notenplan oder
das Liniensystem gemisbrauchet, und die Erfindung neuer Jn-
tervalle zu weit ausgedehnet werden könne, so wie das Verse-
tzungssystem gemisbraucht und zu weit ausgedehnet werden
kann. Aber kann nicht auch das Monochord oder der Calcul
der Schwingungen, ja der Nahme davon selbst gemisbrauchet
werden?

§. 106.

Zur Beantwortung der Frage: ob die erfundnen
neuen Dissonanzen zur Ausübung geschickt sind oder nicht?

Wenn

Zwoͤlfter Abſchnitt. Entſtehung
die Toͤne berechnete. Jn der That koͤmmt es auch nur der
Praxi zu, muſikaliſche Jntervalle zu erfinden, der Theorie
hingegen, die Verhaͤltniſſe derſelben nach vernuͤnftigen Grund-
ſaͤtzen zu reguliren. Jſt die uͤbermaͤßige Sexte oder das Verhaͤlt-
niß derſelben eher entdecket worden? und wodurch iſt man alſo
wohl auf dieſes Jntervall gekommen? Durch Huͤlfe des No-
tenplans; und ſind unſre eingebildte Enharmonien etwas an-
ders als eine Wirkung deſſelben? Das Monochord iſt gewiß
unſchuldig daran. Kann man uͤbrigens durch Huͤlfe des No-
tenplans ein oder zwey neue Jntervalle erfinden, ſo iſt der na-
tuͤrlichſte Schluß dieſer, daß, wenn mehrere moͤglich ſind, und
ſie ſind es ohne Zweifel bis auf einen gewiſſen Punkt, ſolche
auch dadurch gefunden werden koͤnnen.

§. 105.

Jch glaube gerne, daß Notenſyſteme exiſtiren koͤnnen, ver-
mittelſt welcher es nicht moͤglich iſt, Jntervalle zu erfinden.
Aber Notenſyſteme von dieſer Art muͤßen nicht mit dem bey
uns gebraͤuchlichen vermenget werden, und es iſt ſchlechter-
dings zu behaupten, daß, wenn man von der Beſchaffenheit
der griechiſchen und gewiſſer andern alten Notenſyſteme, oder
der von gewiſſen beruͤhmten Maͤnnern neuer Zeit in Vorſchlag
gebrachten Notenſyſteme, dergleichen mir eines vorzuͤglich be-
kannt iſt, auf die Beſchaffenheit des unſrigen ſchlieſſen wollte,
man zeigen wuͤrde, daß man mit den Eigenſchaften deſſelben
nicht hinlaͤnglich bekannt waͤre. Gewißlich kann kein vortref-
licher, und der ganzen Natur unſerer Muſik in aller Ruͤckſicht
angemeßner Linien- oder Notenſyſtem erdacht werden, als das
gegenwaͤrtige. — Jch glaube annoch, daß der Notenplan oder
das Linienſyſtem gemisbrauchet, und die Erfindung neuer Jn-
tervalle zu weit ausgedehnet werden koͤnne, ſo wie das Verſe-
tzungsſyſtem gemisbraucht und zu weit ausgedehnet werden
kann. Aber kann nicht auch das Monochord oder der Calcul
der Schwingungen, ja der Nahme davon ſelbſt gemisbrauchet
werden?

§. 106.

Zur Beantwortung der Frage: ob die erfundnen
neuen Diſſonanzen zur Ausuͤbung geſchickt ſind oder nicht?

Wenn
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0106" n="86"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zwo&#x0364;lfter Ab&#x017F;chnitt. Ent&#x017F;tehung</hi></fw><lb/>
die To&#x0364;ne berechnete. Jn der That ko&#x0364;mmt es auch nur der<lb/>
Praxi zu, mu&#x017F;ikali&#x017F;che Jntervalle zu erfinden, der Theorie<lb/>
hingegen, die Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e der&#x017F;elben nach vernu&#x0364;nftigen Grund-<lb/>
&#x017F;a&#x0364;tzen zu reguliren. J&#x017F;t die u&#x0364;berma&#x0364;ßige Sexte oder das Verha&#x0364;lt-<lb/>
niß der&#x017F;elben eher entdecket worden? und wodurch i&#x017F;t man al&#x017F;o<lb/>
wohl auf die&#x017F;es Jntervall gekommen? Durch Hu&#x0364;lfe des No-<lb/>
tenplans; und &#x017F;ind un&#x017F;re eingebildte Enharmonien etwas an-<lb/>
ders als eine Wirkung de&#x017F;&#x017F;elben? Das Monochord i&#x017F;t gewiß<lb/>
un&#x017F;chuldig daran. Kann man u&#x0364;brigens durch Hu&#x0364;lfe des No-<lb/>
tenplans ein oder zwey neue Jntervalle erfinden, &#x017F;o i&#x017F;t der na-<lb/>
tu&#x0364;rlich&#x017F;te Schluß die&#x017F;er, daß, wenn mehrere mo&#x0364;glich &#x017F;ind, und<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ind es ohne Zweifel bis auf einen gewi&#x017F;&#x017F;en Punkt, &#x017F;olche<lb/>
auch dadurch gefunden werden ko&#x0364;nnen.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 105.</head><lb/>
            <p>Jch glaube gerne, daß Noten&#x017F;y&#x017F;teme exi&#x017F;tiren ko&#x0364;nnen, ver-<lb/>
mittel&#x017F;t welcher es nicht mo&#x0364;glich i&#x017F;t, Jntervalle zu erfinden.<lb/>
Aber Noten&#x017F;y&#x017F;teme von die&#x017F;er Art mu&#x0364;ßen nicht mit dem bey<lb/>
uns gebra&#x0364;uchlichen vermenget werden, und es i&#x017F;t &#x017F;chlechter-<lb/>
dings zu behaupten, daß, wenn man von der Be&#x017F;chaffenheit<lb/>
der griechi&#x017F;chen und gewi&#x017F;&#x017F;er andern alten Noten&#x017F;y&#x017F;teme, oder<lb/>
der von gewi&#x017F;&#x017F;en beru&#x0364;hmten Ma&#x0364;nnern neuer Zeit in Vor&#x017F;chlag<lb/>
gebrachten Noten&#x017F;y&#x017F;teme, dergleichen mir eines vorzu&#x0364;glich be-<lb/>
kannt i&#x017F;t, auf die Be&#x017F;chaffenheit des un&#x017F;rigen &#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en wollte,<lb/>
man zeigen wu&#x0364;rde, daß man mit den Eigen&#x017F;chaften de&#x017F;&#x017F;elben<lb/>
nicht hinla&#x0364;nglich bekannt wa&#x0364;re. Gewißlich kann kein vortref-<lb/>
licher, und der ganzen Natur un&#x017F;erer Mu&#x017F;ik in aller Ru&#x0364;ck&#x017F;icht<lb/>
angemeßner Linien- oder Noten&#x017F;y&#x017F;tem erdacht werden, als das<lb/>
gegenwa&#x0364;rtige. &#x2014; Jch glaube annoch, daß der Notenplan oder<lb/>
das Linien&#x017F;y&#x017F;tem gemisbrauchet, und die Erfindung neuer Jn-<lb/>
tervalle zu weit ausgedehnet werden ko&#x0364;nne, &#x017F;o wie das Ver&#x017F;e-<lb/>
tzungs&#x017F;y&#x017F;tem gemisbraucht und zu weit ausgedehnet werden<lb/>
kann. Aber kann nicht auch das Monochord oder der Calcul<lb/>
der Schwingungen, ja der Nahme davon &#x017F;elb&#x017F;t gemisbrauchet<lb/>
werden?</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 106.</head><lb/>
            <p><hi rendition="#fr">Zur Beantwortung der Frage:</hi> ob die erfundnen<lb/>
neuen Di&#x017F;&#x017F;onanzen zur Ausu&#x0364;bung ge&#x017F;chickt &#x017F;ind oder nicht?<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Wenn</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[86/0106] Zwoͤlfter Abſchnitt. Entſtehung die Toͤne berechnete. Jn der That koͤmmt es auch nur der Praxi zu, muſikaliſche Jntervalle zu erfinden, der Theorie hingegen, die Verhaͤltniſſe derſelben nach vernuͤnftigen Grund- ſaͤtzen zu reguliren. Jſt die uͤbermaͤßige Sexte oder das Verhaͤlt- niß derſelben eher entdecket worden? und wodurch iſt man alſo wohl auf dieſes Jntervall gekommen? Durch Huͤlfe des No- tenplans; und ſind unſre eingebildte Enharmonien etwas an- ders als eine Wirkung deſſelben? Das Monochord iſt gewiß unſchuldig daran. Kann man uͤbrigens durch Huͤlfe des No- tenplans ein oder zwey neue Jntervalle erfinden, ſo iſt der na- tuͤrlichſte Schluß dieſer, daß, wenn mehrere moͤglich ſind, und ſie ſind es ohne Zweifel bis auf einen gewiſſen Punkt, ſolche auch dadurch gefunden werden koͤnnen. §. 105. Jch glaube gerne, daß Notenſyſteme exiſtiren koͤnnen, ver- mittelſt welcher es nicht moͤglich iſt, Jntervalle zu erfinden. Aber Notenſyſteme von dieſer Art muͤßen nicht mit dem bey uns gebraͤuchlichen vermenget werden, und es iſt ſchlechter- dings zu behaupten, daß, wenn man von der Beſchaffenheit der griechiſchen und gewiſſer andern alten Notenſyſteme, oder der von gewiſſen beruͤhmten Maͤnnern neuer Zeit in Vorſchlag gebrachten Notenſyſteme, dergleichen mir eines vorzuͤglich be- kannt iſt, auf die Beſchaffenheit des unſrigen ſchlieſſen wollte, man zeigen wuͤrde, daß man mit den Eigenſchaften deſſelben nicht hinlaͤnglich bekannt waͤre. Gewißlich kann kein vortref- licher, und der ganzen Natur unſerer Muſik in aller Ruͤckſicht angemeßner Linien- oder Notenſyſtem erdacht werden, als das gegenwaͤrtige. — Jch glaube annoch, daß der Notenplan oder das Linienſyſtem gemisbrauchet, und die Erfindung neuer Jn- tervalle zu weit ausgedehnet werden koͤnne, ſo wie das Verſe- tzungsſyſtem gemisbraucht und zu weit ausgedehnet werden kann. Aber kann nicht auch das Monochord oder der Calcul der Schwingungen, ja der Nahme davon ſelbſt gemisbrauchet werden? §. 106. Zur Beantwortung der Frage: ob die erfundnen neuen Diſſonanzen zur Ausuͤbung geſchickt ſind oder nicht? Wenn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/106
Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/106>, abgerufen am 05.05.2024.