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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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der vollständigen diaton. chromat. enharm. Tonleiter.
92.) die beyden neuen Töne fis und b. Was ist ein Jnter-
vall? Die Vergleichung eines Tons mit einem andern in der
Größe verschiednen Ton, oder der Unterscheid von einem größern
zu einem kleinern Ton. Der Augenschein giebt, daß durch
die Einführung der neuen Töne fis und b in die Tonleiter
c d e f g a h, c gewisse Jntervalle entstehen, welche nicht aus
der Vergleichung der Töne c d e f g a h, c unter sich entste-
hen konnten. Jst es nun einerley oder nicht, ob ich z. E. die
Töne f und fis, ingleichen fis und b, oder ob ich die Stuffen-
höhe, durch welche die Größe von f und fis, ingleichen fis
und b, auf unserm Notenplane vorgestellet wird, gegen einan-
der vergleiche, um das Jntervall f:fis, oder fis:b, hervorzu-
bringen? Ohne Zweifel ist es einerley, und dieses um so viel
mehr, da die beyden erfundnen Jntervalle nicht bloß ihren
Nahmen von der Anzahl ihrer Stuffen, sondern ihre ganze
praktische Behandlung daher erhalten, indem die über-
mäßige Prime f:fis nicht wie die kleine Secunde f:ges, und
die verminderte Quarte fis:b nicht wie die große Terz fis:ais
gehandhabet wird. Man kann also durch Hülfe der Linien
und Zwischenräume unsers Notensystems Jntervalle erfinden,
und der Proceß gründet sich auf die Verwechselung des Zei-
chens mit der Sache.
Erhellet nicht hieraus, wie wesentlich
das Liniensystem, so wie es bey uns herrschet, mit dem gan-
zen System der Musik verbunden ist? Jn der That muß auch
alles, was nach Graden abgezählet wird, nach Graden her-
vorgebracht werden können, und die Erfahrung ist der stärkste
Beweis davon. Würde es nicht lächerlich seyn, eine falsche
Quinte h:f für ein Jntervall von fünf Stuffen in zwey ganzen
und zwey größern halben Tönen anzunehmen, und zu leug-
nen, daß sie durch h c d e f gefunden werden könnte?

§. 104.

Jch wünsche gern zu wissen, wie, wenn man, die Ver-
hältnisse der Musik nicht bereits kennte, man es anfangen woll-
te, solche durch den Calcul der Schwingungen zu entdecken.
Zu allen Zeiten ist die Praxis vorangegangen, und die Theorie
ist nachgefolget. Man hatte schon lange in der Welt gefun-
gen und gespielet, ehe Pythagoras vor den Amboß trat, und

die
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der vollſtaͤndigen diaton. chromat. enharm. Tonleiter.
92.) die beyden neuen Toͤne fis und b. Was iſt ein Jnter-
vall? Die Vergleichung eines Tons mit einem andern in der
Groͤße verſchiednen Ton, oder der Unterſcheid von einem groͤßern
zu einem kleinern Ton. Der Augenſchein giebt, daß durch
die Einfuͤhrung der neuen Toͤne fis und b in die Tonleiter
c d e f g a h, c̅ gewiſſe Jntervalle entſtehen, welche nicht aus
der Vergleichung der Toͤne c d e f g a h, c̅ unter ſich entſte-
hen konnten. Jſt es nun einerley oder nicht, ob ich z. E. die
Toͤne f und fis, ingleichen fis und b, oder ob ich die Stuffen-
hoͤhe, durch welche die Groͤße von f und fis, ingleichen fis
und b, auf unſerm Notenplane vorgeſtellet wird, gegen einan-
der vergleiche, um das Jntervall f:fis, oder fis:b, hervorzu-
bringen? Ohne Zweifel iſt es einerley, und dieſes um ſo viel
mehr, da die beyden erfundnen Jntervalle nicht bloß ihren
Nahmen von der Anzahl ihrer Stuffen, ſondern ihre ganze
praktiſche Behandlung daher erhalten, indem die uͤber-
maͤßige Prime f:fis nicht wie die kleine Secunde f:ges, und
die verminderte Quarte fis:b nicht wie die große Terz fis:ais
gehandhabet wird. Man kann alſo durch Huͤlfe der Linien
und Zwiſchenraͤume unſers Notenſyſtems Jntervalle erfinden,
und der Proceß gruͤndet ſich auf die Verwechſelung des Zei-
chens mit der Sache.
Erhellet nicht hieraus, wie weſentlich
das Linienſyſtem, ſo wie es bey uns herrſchet, mit dem gan-
zen Syſtem der Muſik verbunden iſt? Jn der That muß auch
alles, was nach Graden abgezaͤhlet wird, nach Graden her-
vorgebracht werden koͤnnen, und die Erfahrung iſt der ſtaͤrkſte
Beweis davon. Wuͤrde es nicht laͤcherlich ſeyn, eine falſche
Quinte h:f fuͤr ein Jntervall von fuͤnf Stuffen in zwey ganzen
und zwey groͤßern halben Toͤnen anzunehmen, und zu leug-
nen, daß ſie durch h c d e f gefunden werden koͤnnte?

§. 104.

Jch wuͤnſche gern zu wiſſen, wie, wenn man, die Ver-
haͤltniſſe der Muſik nicht bereits kennte, man es anfangen woll-
te, ſolche durch den Calcul der Schwingungen zu entdecken.
Zu allen Zeiten iſt die Praxis vorangegangen, und die Theorie
iſt nachgefolget. Man hatte ſchon lange in der Welt gefun-
gen und geſpielet, ehe Pythagoras vor den Amboß trat, und

die
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[85/0105] der vollſtaͤndigen diaton. chromat. enharm. Tonleiter. 92.) die beyden neuen Toͤne fis und b. Was iſt ein Jnter- vall? Die Vergleichung eines Tons mit einem andern in der Groͤße verſchiednen Ton, oder der Unterſcheid von einem groͤßern zu einem kleinern Ton. Der Augenſchein giebt, daß durch die Einfuͤhrung der neuen Toͤne fis und b in die Tonleiter c d e f g a h, c̅ gewiſſe Jntervalle entſtehen, welche nicht aus der Vergleichung der Toͤne c d e f g a h, c̅ unter ſich entſte- hen konnten. Jſt es nun einerley oder nicht, ob ich z. E. die Toͤne f und fis, ingleichen fis und b, oder ob ich die Stuffen- hoͤhe, durch welche die Groͤße von f und fis, ingleichen fis und b, auf unſerm Notenplane vorgeſtellet wird, gegen einan- der vergleiche, um das Jntervall f:fis, oder fis:b, hervorzu- bringen? Ohne Zweifel iſt es einerley, und dieſes um ſo viel mehr, da die beyden erfundnen Jntervalle nicht bloß ihren Nahmen von der Anzahl ihrer Stuffen, ſondern ihre ganze praktiſche Behandlung daher erhalten, indem die uͤber- maͤßige Prime f:fis nicht wie die kleine Secunde f:ges, und die verminderte Quarte fis:b nicht wie die große Terz fis:ais gehandhabet wird. Man kann alſo durch Huͤlfe der Linien und Zwiſchenraͤume unſers Notenſyſtems Jntervalle erfinden, und der Proceß gruͤndet ſich auf die Verwechſelung des Zei- chens mit der Sache. Erhellet nicht hieraus, wie weſentlich das Linienſyſtem, ſo wie es bey uns herrſchet, mit dem gan- zen Syſtem der Muſik verbunden iſt? Jn der That muß auch alles, was nach Graden abgezaͤhlet wird, nach Graden her- vorgebracht werden koͤnnen, und die Erfahrung iſt der ſtaͤrkſte Beweis davon. Wuͤrde es nicht laͤcherlich ſeyn, eine falſche Quinte h:f fuͤr ein Jntervall von fuͤnf Stuffen in zwey ganzen und zwey groͤßern halben Toͤnen anzunehmen, und zu leug- nen, daß ſie durch h c d e f gefunden werden koͤnnte? §. 104. Jch wuͤnſche gern zu wiſſen, wie, wenn man, die Ver- haͤltniſſe der Muſik nicht bereits kennte, man es anfangen woll- te, ſolche durch den Calcul der Schwingungen zu entdecken. Zu allen Zeiten iſt die Praxis vorangegangen, und die Theorie iſt nachgefolget. Man hatte ſchon lange in der Welt gefun- gen und geſpielet, ehe Pythagoras vor den Amboß trat, und die F 3

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/105>, abgerufen am 25.11.2024.