Wahrheit für beleidiget, oder gab ich derselben ein williges Gehör? Verachtete und haßte ich diejenigen, welche so aufrichtig gegen mich waren, mir meine Feh- ler und Unarten zu sagen; oder wußte ich es ihnen vielmehr Dank, daß sie mir Gelegenheit gaben, mei- ne Untugenden zu erkennen und zu verbessern?
Wie habe ich mich heute bey meinen Vergnü- gungen, bey meinen Spielen, in meinen Erholungs- stunden verhalten? Bin ich stets in den Schranken der Mäßigkeit geblieben? Habe ich meine Pflichten nie dabey vergessen? Habe ich bey dem Genusse der Freude wider keines deiner Gebote gesündiget? Oder trieb ich alles bis zur Ausschweifung und so, daß es so wohl meinem Körper, als meinem Verstande und Herzen nachtheilig werden mußte? Beleidigte, ver- achtete, verspottete ich keinen, auch noch so armen und geringen Menschen? Hatte ich mit dem Elenden, mit dem Dürftigen, mit dem Schwachen Mitleid? Oder vergieng ich mich vielleicht so sehr, daß ich mich dieser meiner elenden und geringern Brüder und Schwe- stern schämte, ihnen stolz und trotzig begegnete, sie mit harten Scheltworten von mir zurückwies und ihrer Leibesgestalt, ihrer Gebrechen, ihrer Armuth, ihrer schlechten Kleidung u. s. w. spottete?
O wie angenehm und beruhigend sind die Em- pfindungen bey dem Andenken an das Gute, dessen ich mir bewußt bin! Wie froh und zufrieden, wie voll von Vertrauen auf dich, wie glücklich bin ich da, wenn mir mein Herz das Zeugniß giebt, daß ich mei- ne Pflicht gethan und so gehandelt habe, wie ich han-
deln
F 3
Abendgebet allgemeinen Inhalts.
Wahrheit für beleidiget, oder gab ich derſelben ein williges Gehör? Verachtete und haßte ich diejenigen, welche ſo aufrichtig gegen mich waren, mir meine Feh- ler und Unarten zu ſagen; oder wußte ich es ihnen vielmehr Dank, daß ſie mir Gelegenheit gaben, mei- ne Untugenden zu erkennen und zu verbeſſern?
Wie habe ich mich heute bey meinen Vergnü- gungen, bey meinen Spielen, in meinen Erholungs- ſtunden verhalten? Bin ich ſtets in den Schranken der Mäßigkeit geblieben? Habe ich meine Pflichten nie dabey vergeſſen? Habe ich bey dem Genuſſe der Freude wider keines deiner Gebote geſündiget? Oder trieb ich alles bis zur Ausſchweifung und ſo, daß es ſo wohl meinem Körper, als meinem Verſtande und Herzen nachtheilig werden mußte? Beleidigte, ver- achtete, verſpottete ich keinen, auch noch ſo armen und geringen Menſchen? Hatte ich mit dem Elenden, mit dem Dürftigen, mit dem Schwachen Mitleid? Oder vergieng ich mich vielleicht ſo ſehr, daß ich mich dieſer meiner elenden und geringern Brüder und Schwe- ſtern ſchämte, ihnen ſtolz und trotzig begegnete, ſie mit harten Scheltworten von mir zurückwies und ihrer Leibesgeſtalt, ihrer Gebrechen, ihrer Armuth, ihrer ſchlechten Kleidung u. ſ. w. ſpottete?
O wie angenehm und beruhigend ſind die Em- pfindungen bey dem Andenken an das Gute, deſſen ich mir bewußt bin! Wie froh und zufrieden, wie voll von Vertrauen auf dich, wie glücklich bin ich da, wenn mir mein Herz das Zeugniß giebt, daß ich mei- ne Pflicht gethan und ſo gehandelt habe, wie ich han-
deln
F 3
<TEI><text><body><divn="2"><p><pbfacs="#f0097"n="85"/><fwplace="top"type="header">Abendgebet allgemeinen Inhalts.</fw><lb/>
Wahrheit für beleidiget, oder gab ich derſelben ein<lb/>
williges Gehör? Verachtete und haßte ich diejenigen,<lb/>
welche ſo aufrichtig gegen mich waren, mir meine Feh-<lb/>
ler und Unarten zu ſagen; oder wußte ich es ihnen<lb/>
vielmehr Dank, daß ſie mir Gelegenheit gaben, mei-<lb/>
ne Untugenden zu erkennen und zu verbeſſern?</p><lb/><p>Wie habe ich mich heute bey meinen Vergnü-<lb/>
gungen, bey meinen Spielen, in meinen Erholungs-<lb/>ſtunden verhalten? Bin ich ſtets in den Schranken<lb/>
der Mäßigkeit geblieben? Habe ich meine Pflichten<lb/>
nie dabey vergeſſen? Habe ich bey dem Genuſſe der<lb/>
Freude wider keines deiner Gebote geſündiget? Oder<lb/>
trieb ich alles bis zur Ausſchweifung und ſo, daß es<lb/>ſo wohl meinem Körper, als meinem Verſtande und<lb/>
Herzen nachtheilig werden mußte? Beleidigte, ver-<lb/>
achtete, verſpottete ich keinen, auch noch ſo armen und<lb/>
geringen Menſchen? Hatte ich mit dem Elenden,<lb/>
mit dem Dürftigen, mit dem Schwachen Mitleid?<lb/>
Oder vergieng ich mich vielleicht ſo ſehr, daß ich mich<lb/>
dieſer meiner elenden und geringern Brüder und Schwe-<lb/>ſtern ſchämte, ihnen ſtolz und trotzig begegnete, ſie<lb/>
mit harten Scheltworten von mir zurückwies und ihrer<lb/>
Leibesgeſtalt, ihrer Gebrechen, ihrer Armuth, ihrer<lb/>ſchlechten Kleidung u. ſ. w. ſpottete?</p><lb/><p>O wie angenehm und beruhigend ſind die Em-<lb/>
pfindungen bey dem Andenken an das Gute, deſſen<lb/>
ich mir bewußt bin! Wie froh und zufrieden, wie<lb/>
voll von Vertrauen auf dich, wie glücklich bin ich da,<lb/>
wenn mir mein Herz das Zeugniß giebt, daß ich mei-<lb/>
ne Pflicht gethan und ſo gehandelt habe, wie ich han-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">F 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">deln</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[85/0097]
Abendgebet allgemeinen Inhalts.
Wahrheit für beleidiget, oder gab ich derſelben ein
williges Gehör? Verachtete und haßte ich diejenigen,
welche ſo aufrichtig gegen mich waren, mir meine Feh-
ler und Unarten zu ſagen; oder wußte ich es ihnen
vielmehr Dank, daß ſie mir Gelegenheit gaben, mei-
ne Untugenden zu erkennen und zu verbeſſern?
Wie habe ich mich heute bey meinen Vergnü-
gungen, bey meinen Spielen, in meinen Erholungs-
ſtunden verhalten? Bin ich ſtets in den Schranken
der Mäßigkeit geblieben? Habe ich meine Pflichten
nie dabey vergeſſen? Habe ich bey dem Genuſſe der
Freude wider keines deiner Gebote geſündiget? Oder
trieb ich alles bis zur Ausſchweifung und ſo, daß es
ſo wohl meinem Körper, als meinem Verſtande und
Herzen nachtheilig werden mußte? Beleidigte, ver-
achtete, verſpottete ich keinen, auch noch ſo armen und
geringen Menſchen? Hatte ich mit dem Elenden,
mit dem Dürftigen, mit dem Schwachen Mitleid?
Oder vergieng ich mich vielleicht ſo ſehr, daß ich mich
dieſer meiner elenden und geringern Brüder und Schwe-
ſtern ſchämte, ihnen ſtolz und trotzig begegnete, ſie
mit harten Scheltworten von mir zurückwies und ihrer
Leibesgeſtalt, ihrer Gebrechen, ihrer Armuth, ihrer
ſchlechten Kleidung u. ſ. w. ſpottete?
O wie angenehm und beruhigend ſind die Em-
pfindungen bey dem Andenken an das Gute, deſſen
ich mir bewußt bin! Wie froh und zufrieden, wie
voll von Vertrauen auf dich, wie glücklich bin ich da,
wenn mir mein Herz das Zeugniß giebt, daß ich mei-
ne Pflicht gethan und ſo gehandelt habe, wie ich han-
deln
F 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/97>, abgerufen am 23.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.