Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.Abendgebet allgemeinen Inhalts. sucht, was ich ihnen nach meiner Einsicht offenbarensollte? Nahm ich ihre Warnungen, ihre Zurechtwei- sungen, ihre Züchtigungen mit einem guten, mit einem solchen Herzen auf, mit welchem sie mir ertheilt wurden? Unterwarf ich mich in allen Stücken ihrem Willen und ihrer Klugheit, oder dünkte ich mich selbst weise und erfahren genug, um das Gegentheil von dem zu thun und zu begehren, was sie wollten und billigten? Erkannte und schätzte ich ihre unermüdete Liebe gegen mich, und liebte ich sie hinwiederum so, wie sie es um mich verdienten? Konnte ich es mit gleich- gültigen Augen ansehen, wenn sie sich meinetwegen betrübten und bekümmerten, oder empfand ich Schaam und Reue über den Ungehorsam, dessen ich mich gegen sie schuldig gemacht hatte? Vielleicht bin ich heute gelobt, hervorgezogen Wahr-
Abendgebet allgemeinen Inhalts. ſucht, was ich ihnen nach meiner Einſicht offenbarenſollte? Nahm ich ihre Warnungen, ihre Zurechtwei- ſungen, ihre Züchtigungen mit einem guten, mit einem ſolchen Herzen auf, mit welchem ſie mir ertheilt wurden? Unterwarf ich mich in allen Stücken ihrem Willen und ihrer Klugheit, oder dünkte ich mich ſelbſt weiſe und erfahren genug, um das Gegentheil von dem zu thun und zu begehren, was ſie wollten und billigten? Erkannte und ſchätzte ich ihre unermüdete Liebe gegen mich, und liebte ich ſie hinwiederum ſo, wie ſie es um mich verdienten? Konnte ich es mit gleich- gültigen Augen anſehen, wenn ſie ſich meinetwegen betrübten und bekümmerten, oder empfand ich Schaam und Reue über den Ungehorſam, deſſen ich mich gegen ſie ſchuldig gemacht hatte? Vielleicht bin ich heute gelobt, hervorgezogen Wahr-
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Abendgebet allgemeinen Inhalts.
ſucht, was ich ihnen nach meiner Einſicht offenbaren
ſollte? Nahm ich ihre Warnungen, ihre Zurechtwei-
ſungen, ihre Züchtigungen mit einem guten, mit
einem ſolchen Herzen auf, mit welchem ſie mir ertheilt
wurden? Unterwarf ich mich in allen Stücken ihrem
Willen und ihrer Klugheit, oder dünkte ich mich ſelbſt
weiſe und erfahren genug, um das Gegentheil von
dem zu thun und zu begehren, was ſie wollten und
billigten? Erkannte und ſchätzte ich ihre unermüdete
Liebe gegen mich, und liebte ich ſie hinwiederum ſo,
wie ſie es um mich verdienten? Konnte ich es mit gleich-
gültigen Augen anſehen, wenn ſie ſich meinetwegen
betrübten und bekümmerten, oder empfand ich
Schaam und Reue über den Ungehorſam, deſſen ich
mich gegen ſie ſchuldig gemacht hatte?
Vielleicht bin ich heute gelobt, hervorgezogen
und andern zum Muſter vorgeſtellt worden. Und wie
verhielt ich mich dabey? Glaubte ich deßwegen ſchon
gut und verſtändig genug zu ſeyn, und nun nicht ver-
ſtändiger und beſſer werden zu dürfen, oder nahm
ich das Lob, welches man mir ertheilte, ſo an, wie
ich es annehmen muß, für eine Ermunterung zum
Fleiße, zum Gehorſam, zur Tugend und zur immer
größern Vervollkommnung? Habe ich durch dieſen er-
haltenen Vorzug meinen Stolz, meine Eitelkeit ge-
nährt und andere aus dieſer Urſache verachtet und ge-
ring geſchätzt; oder blieb ich beſcheiden, gefäl-
lig und demüthig dabey? Vielleicht bin ich heute ge-
tadelt, beſchämt, zurückgeſetzt worden. Und wie ha-
be ich dieſes ertragen? Hielt ich mich etwa durch die
Wahr-
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