wenn gleich weder ich noch ein anderer Mensch deine weisen und verborgenen Absichten immer zu enträthseln vermag.
Aber mit welchen Empfindungen kann ich wohl auf mich selbst und auf mein Leben zurückblicken? Kann ich mit Heiterkeit und frohem Sinne an das denken, was ich heute gethan oder nicht gethan, erworben oder verloren habe? Bin ich heute besser oder schlechter, voll- kommener oder unvollkommener geworden? Ich hatte Gelegenheit, viel Wahres und Brauchbares zu ler- nen, viele falsche Meinungen abzulegen, viele Thor- heiten zu bestreiten. Habe ich diese Gelegenheit sorg- fältig genutzt? Habe ich dem Unterrichte, der mir er- theilt worden ist, mit Lust und Eifer, oder nur aus Furcht und Zwang beygewohnt? Bin ich lehrbegierig und aufmerksam, oder zerstreut und unachtsam dabey gewesen? Habe ich meinen Lehrern ihr Amt erleich- tert oder erschweret, ihnen Freude oder Misvergnü- gen gemacht? Fühlte ich einen Durst nach Kenntnis- sen und Verbesserung meiner Einsichten; oder habe ich mich von dem schädlichen Vorurtheile blenden las- sen, als ob sich mein Geschlecht mit noch so wenigen und unvollständigen Kenntnissen befriedigen könne?
Meine Aeltern gaben mir heute bey jeder Ver- anlassung Beweise ihrer Liebe und Zärtlichkeit gegen mich. Habe ich auch ihnen dieselben gegeben? Fühlte ich mich stets von recht kindlichen und dankbaren Ge- sinnungen gegen sie durchdrungen? Habe ich alles, und alles gern und willig gethan, was sie mich thun hießen? Habe ich ihnen nichts zu verheelen ge-
sucht,
F 2
Abendgebet allgemeinen Inhalts.
wenn gleich weder ich noch ein anderer Menſch deine weiſen und verborgenen Abſichten immer zu enträthſeln vermag.
Aber mit welchen Empfindungen kann ich wohl auf mich ſelbſt und auf mein Leben zurückblicken? Kann ich mit Heiterkeit und frohem Sinne an das denken, was ich heute gethan oder nicht gethan, erworben oder verloren habe? Bin ich heute beſſer oder ſchlechter, voll- kommener oder unvollkommener geworden? Ich hatte Gelegenheit, viel Wahres und Brauchbares zu ler- nen, viele falſche Meinungen abzulegen, viele Thor- heiten zu beſtreiten. Habe ich dieſe Gelegenheit ſorg- fältig genutzt? Habe ich dem Unterrichte, der mir er- theilt worden iſt, mit Luſt und Eifer, oder nur aus Furcht und Zwang beygewohnt? Bin ich lehrbegierig und aufmerkſam, oder zerſtreut und unachtſam dabey geweſen? Habe ich meinen Lehrern ihr Amt erleich- tert oder erſchweret, ihnen Freude oder Misvergnü- gen gemacht? Fühlte ich einen Durſt nach Kenntniſ- ſen und Verbeſſerung meiner Einſichten; oder habe ich mich von dem ſchädlichen Vorurtheile blenden laſ- ſen, als ob ſich mein Geſchlecht mit noch ſo wenigen und unvollſtändigen Kenntniſſen befriedigen könne?
Meine Aeltern gaben mir heute bey jeder Ver- anlaſſung Beweiſe ihrer Liebe und Zärtlichkeit gegen mich. Habe ich auch ihnen dieſelben gegeben? Fühlte ich mich ſtets von recht kindlichen und dankbaren Ge- ſinnungen gegen ſie durchdrungen? Habe ich alles, und alles gern und willig gethan, was ſie mich thun hießen? Habe ich ihnen nichts zu verheelen ge-
ſucht,
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Abendgebet allgemeinen Inhalts.
wenn gleich weder ich noch ein anderer Menſch deine
weiſen und verborgenen Abſichten immer zu enträthſeln
vermag.
Aber mit welchen Empfindungen kann ich wohl
auf mich ſelbſt und auf mein Leben zurückblicken? Kann
ich mit Heiterkeit und frohem Sinne an das denken,
was ich heute gethan oder nicht gethan, erworben oder
verloren habe? Bin ich heute beſſer oder ſchlechter, voll-
kommener oder unvollkommener geworden? Ich hatte
Gelegenheit, viel Wahres und Brauchbares zu ler-
nen, viele falſche Meinungen abzulegen, viele Thor-
heiten zu beſtreiten. Habe ich dieſe Gelegenheit ſorg-
fältig genutzt? Habe ich dem Unterrichte, der mir er-
theilt worden iſt, mit Luſt und Eifer, oder nur aus
Furcht und Zwang beygewohnt? Bin ich lehrbegierig
und aufmerkſam, oder zerſtreut und unachtſam dabey
geweſen? Habe ich meinen Lehrern ihr Amt erleich-
tert oder erſchweret, ihnen Freude oder Misvergnü-
gen gemacht? Fühlte ich einen Durſt nach Kenntniſ-
ſen und Verbeſſerung meiner Einſichten; oder habe
ich mich von dem ſchädlichen Vorurtheile blenden laſ-
ſen, als ob ſich mein Geſchlecht mit noch ſo wenigen
und unvollſtändigen Kenntniſſen befriedigen könne?
Meine Aeltern gaben mir heute bey jeder Ver-
anlaſſung Beweiſe ihrer Liebe und Zärtlichkeit gegen
mich. Habe ich auch ihnen dieſelben gegeben? Fühlte
ich mich ſtets von recht kindlichen und dankbaren Ge-
ſinnungen gegen ſie durchdrungen? Habe ich alles,
und alles gern und willig gethan, was ſie mich
thun hießen? Habe ich ihnen nichts zu verheelen ge-
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Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/95>, abgerufen am 23.06.2024.
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