Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.Gebet nach dem heiligen Abendmahle. aufgenommen worden. Von nun an werde ich nichtmehr als Kind, sondern als eine Person behandelt, die sich ihres Verstandes zu erfreuen hat und ihrer Vernunft zu bedienen weiß. Ich genieße nun man- cherley Vorrechte und Vorzüge, die ich sonst nicht besaß, und gelange immer mehr und mehr zum Be- sitz meiner menschlichen und christlichen Freyheit. -- O möchte ich mich diese Veränderungen nicht täuschen, mich nicht von einem falschen Schimmer irre führen lassen! Möchte ich mir ja nicht einbilden, daß ich nun die Religion vollkommen verstehe, weil die Jahre des eigentlichen, dazu bestimmten Unterrichts vorüber sind! Möchte ich ja nicht glauben, daß ich nun nicht mehr nöthig habe, viel Zeit auf die Kenntnis der Re- ligion zu wenden, weil ich itzt für eine Christin gehal- ten werde! Nein, nunmehr habe ich erst recht die Verpflichtung auf mir, über die Religion nachzuden- ken, weil ich für verständig und des Nachdenkens für fähig erklärt worden bin. Nun liegt es mir ob, mei- ne Religionsbegriffe täglich mehr zu erweitern und Licht, Bestimmtheit und Deutlichkeit in dieselben zu bringen, weil ich mir selbst überlassen bin und nicht mehr von dem Munde des Lehrers, sondern von dem Ge- brauche meiner Vernunft abhänge. Ferne sey es also von mir, die größere Freyheit, die mir nun zu Theil geworden ist, zu misbrauchen! Ferne sey es von mir, dieses edle Kleinod zu verkennen, und mensch- liche und christliche Freyheit mit frecher Gesetzlosigkeit und zügelloser Ungebundenheit zu verwechseln! Nein, von nun an muß ich mich selbst einschränken, mir selbst
Gebet nach dem heiligen Abendmahle. aufgenommen worden. Von nun an werde ich nichtmehr als Kind, ſondern als eine Perſon behandelt, die ſich ihres Verſtandes zu erfreuen hat und ihrer Vernunft zu bedienen weiß. Ich genieße nun man- cherley Vorrechte und Vorzüge, die ich ſonſt nicht beſaß, und gelange immer mehr und mehr zum Be- ſitz meiner menſchlichen und chriſtlichen Freyheit. — O möchte ich mich dieſe Veränderungen nicht täuſchen, mich nicht von einem falſchen Schimmer irre führen laſſen! Möchte ich mir ja nicht einbilden, daß ich nun die Religion vollkommen verſtehe, weil die Jahre des eigentlichen, dazu beſtimmten Unterrichts vorüber ſind! Möchte ich ja nicht glauben, daß ich nun nicht mehr nöthig habe, viel Zeit auf die Kenntnis der Re- ligion zu wenden, weil ich itzt für eine Chriſtin gehal- ten werde! Nein, nunmehr habe ich erſt recht die Verpflichtung auf mir, über die Religion nachzuden- ken, weil ich für verſtändig und des Nachdenkens für fähig erklärt worden bin. Nun liegt es mir ob, mei- ne Religionsbegriffe täglich mehr zu erweitern und Licht, Beſtimmtheit und Deutlichkeit in dieſelben zu bringen, weil ich mir ſelbſt überlaſſen bin und nicht mehr von dem Munde des Lehrers, ſondern von dem Ge- brauche meiner Vernunft abhänge. Ferne ſey es alſo von mir, die größere Freyheit, die mir nun zu Theil geworden iſt, zu misbrauchen! Ferne ſey es von mir, dieſes edle Kleinod zu verkennen, und menſch- liche und chriſtliche Freyheit mit frecher Geſetzloſigkeit und zügelloſer Ungebundenheit zu verwechſeln! Nein, von nun an muß ich mich ſelbſt einſchränken, mir ſelbſt
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Gebet nach dem heiligen Abendmahle.
aufgenommen worden. Von nun an werde ich nicht
mehr als Kind, ſondern als eine Perſon behandelt,
die ſich ihres Verſtandes zu erfreuen hat und ihrer
Vernunft zu bedienen weiß. Ich genieße nun man-
cherley Vorrechte und Vorzüge, die ich ſonſt nicht
beſaß, und gelange immer mehr und mehr zum Be-
ſitz meiner menſchlichen und chriſtlichen Freyheit. —
O möchte ich mich dieſe Veränderungen nicht täuſchen,
mich nicht von einem falſchen Schimmer irre führen
laſſen! Möchte ich mir ja nicht einbilden, daß ich
nun die Religion vollkommen verſtehe, weil die Jahre
des eigentlichen, dazu beſtimmten Unterrichts vorüber
ſind! Möchte ich ja nicht glauben, daß ich nun nicht
mehr nöthig habe, viel Zeit auf die Kenntnis der Re-
ligion zu wenden, weil ich itzt für eine Chriſtin gehal-
ten werde! Nein, nunmehr habe ich erſt recht die
Verpflichtung auf mir, über die Religion nachzuden-
ken, weil ich für verſtändig und des Nachdenkens für
fähig erklärt worden bin. Nun liegt es mir ob, mei-
ne Religionsbegriffe täglich mehr zu erweitern und
Licht, Beſtimmtheit und Deutlichkeit in dieſelben zu
bringen, weil ich mir ſelbſt überlaſſen bin und nicht mehr
von dem Munde des Lehrers, ſondern von dem Ge-
brauche meiner Vernunft abhänge. Ferne ſey es alſo
von mir, die größere Freyheit, die mir nun zu
Theil geworden iſt, zu misbrauchen! Ferne ſey es
von mir, dieſes edle Kleinod zu verkennen, und menſch-
liche und chriſtliche Freyheit mit frecher Geſetzloſigkeit
und zügelloſer Ungebundenheit zu verwechſeln! Nein,
von nun an muß ich mich ſelbſt einſchränken, mir
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