Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Macht und der Einfluß böser Beyspiele.
zur Gleichgültigkeit gegen dasselbe gewöhne, wenn
mir schlechte, schädliche Gesinnungen, Reden, Ur-
theile und Handlungen nicht mehr auffallen und
als schlecht und schädlich vorkommen, dann bin ich
auch in Gefahr, eben die Gesinnungen und Urtheile
zu äussern und eben das zu sagen und zu thun, so
bald es nur ohne sichtbaren Nachtheil für mich gesche-
hen kann. Ich kann da vielleicht in der Ein-
samkeit und in Gegenwart guter und tugendhaf-
ter Menschen gut und tugendhaft leben; ich kann
auch von meinen Pflichten völlig überzeugt seyn: aber
die bösen Beyspiele, die ich sehe, finden dennoch den
Weg zu meinem Herzen, ohne daß der Verstand im-
mer ihren Einfluß verhindern kann.

Und wie ansteckend, wie gefährlich ist nicht diese
Macht der Beyspiele bey dem weiblichen Geschlechte!
Wie blind ahmen wir nicht gemeiniglich die Thorhei-
ten nach, die wir bewundert sehen! Wie allgemein
und herrschend sind nicht gewisse Fehler und Vorur-
theile unter uns, die sich immer von der Einen auf
andere fortpflanzen! Wie sehr wird nicht unser Nachah-
mungstrieb durch die falsche Schaam und durch übel-
verstandenen Ehrgeitz misgeleitet! Wie viel Thörich-
tes und Schlechtes läßt uns nicht die Mode vernünf-
tig und schön finden! In welcher reizenden einneh-
menden Gestalt erscheint mir da oft das Laster und be-
schleicht mich, ehe ich es kenne und für das halte,
was es ist! Da werde ich zur Eitelkeit, zum Stolze,
zur Verschwendung, zur Zerstreuungssucht, zum
Neide, zur Falschheit, zur Verstellung und zu allen

gang-
D 5

Die Macht und der Einfluß böſer Beyſpiele.
zur Gleichgültigkeit gegen daſſelbe gewöhne, wenn
mir ſchlechte, ſchädliche Geſinnungen, Reden, Ur-
theile und Handlungen nicht mehr auffallen und
als ſchlecht und ſchädlich vorkommen, dann bin ich
auch in Gefahr, eben die Geſinnungen und Urtheile
zu äuſſern und eben das zu ſagen und zu thun, ſo
bald es nur ohne ſichtbaren Nachtheil für mich geſche-
hen kann. Ich kann da vielleicht in der Ein-
ſamkeit und in Gegenwart guter und tugendhaf-
ter Menſchen gut und tugendhaft leben; ich kann
auch von meinen Pflichten völlig überzeugt ſeyn: aber
die böſen Beyſpiele, die ich ſehe, finden dennoch den
Weg zu meinem Herzen, ohne daß der Verſtand im-
mer ihren Einfluß verhindern kann.

Und wie anſteckend, wie gefährlich iſt nicht dieſe
Macht der Beyſpiele bey dem weiblichen Geſchlechte!
Wie blind ahmen wir nicht gemeiniglich die Thorhei-
ten nach, die wir bewundert ſehen! Wie allgemein
und herrſchend ſind nicht gewiſſe Fehler und Vorur-
theile unter uns, die ſich immer von der Einen auf
andere fortpflanzen! Wie ſehr wird nicht unſer Nachah-
mungstrieb durch die falſche Schaam und durch übel-
verſtandenen Ehrgeitz misgeleitet! Wie viel Thörich-
tes und Schlechtes läßt uns nicht die Mode vernünf-
tig und ſchön finden! In welcher reizenden einneh-
menden Geſtalt erſcheint mir da oft das Laſter und be-
ſchleicht mich, ehe ich es kenne und für das halte,
was es iſt! Da werde ich zur Eitelkeit, zum Stolze,
zur Verſchwendung, zur Zerſtreuungsſucht, zum
Neide, zur Falſchheit, zur Verſtellung und zu allen

gang-
D 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0069" n="57"/><fw place="top" type="header">Die Macht und der Einfluß bö&#x017F;er Bey&#x017F;piele.</fw><lb/>
zur Gleichgültigkeit gegen da&#x017F;&#x017F;elbe gewöhne, wenn<lb/>
mir &#x017F;chlechte, &#x017F;chädliche Ge&#x017F;innungen, Reden, Ur-<lb/>
theile und Handlungen nicht mehr auffallen und<lb/>
als &#x017F;chlecht und &#x017F;chädlich vorkommen, dann bin ich<lb/>
auch in Gefahr, eben die Ge&#x017F;innungen und Urtheile<lb/>
zu äu&#x017F;&#x017F;ern und eben das zu &#x017F;agen und zu thun, &#x017F;o<lb/>
bald es nur ohne &#x017F;ichtbaren Nachtheil für mich ge&#x017F;che-<lb/>
hen kann. Ich kann da vielleicht in der Ein-<lb/>
&#x017F;amkeit und in Gegenwart guter und tugendhaf-<lb/>
ter Men&#x017F;chen gut und tugendhaft leben; ich kann<lb/>
auch von meinen Pflichten völlig überzeugt &#x017F;eyn: aber<lb/>
die bö&#x017F;en Bey&#x017F;piele, die ich &#x017F;ehe, finden dennoch den<lb/>
Weg zu meinem Herzen, ohne daß der Ver&#x017F;tand im-<lb/>
mer ihren Einfluß verhindern kann.</p><lb/>
        <p>Und wie an&#x017F;teckend, wie gefährlich i&#x017F;t nicht die&#x017F;e<lb/>
Macht der Bey&#x017F;piele bey dem weiblichen Ge&#x017F;chlechte!<lb/>
Wie blind ahmen wir nicht gemeiniglich die Thorhei-<lb/>
ten nach, die wir bewundert &#x017F;ehen! Wie allgemein<lb/>
und herr&#x017F;chend &#x017F;ind nicht gewi&#x017F;&#x017F;e Fehler und Vorur-<lb/>
theile unter uns, die &#x017F;ich immer von der Einen auf<lb/>
andere fortpflanzen! Wie &#x017F;ehr wird nicht un&#x017F;er Nachah-<lb/>
mungstrieb durch die fal&#x017F;che Schaam und durch übel-<lb/>
ver&#x017F;tandenen Ehrgeitz misgeleitet! Wie viel Thörich-<lb/>
tes und Schlechtes läßt uns nicht die Mode vernünf-<lb/>
tig und &#x017F;chön finden! In welcher reizenden einneh-<lb/>
menden Ge&#x017F;talt er&#x017F;cheint mir da oft das La&#x017F;ter und be-<lb/>
&#x017F;chleicht mich, ehe ich es kenne und für das halte,<lb/>
was es i&#x017F;t! Da werde ich zur Eitelkeit, zum Stolze,<lb/>
zur Ver&#x017F;chwendung, zur Zer&#x017F;treuungs&#x017F;ucht, zum<lb/>
Neide, zur Fal&#x017F;chheit, zur Ver&#x017F;tellung und zu allen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D 5</fw><fw place="bottom" type="catch">gang-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[57/0069] Die Macht und der Einfluß böſer Beyſpiele. zur Gleichgültigkeit gegen daſſelbe gewöhne, wenn mir ſchlechte, ſchädliche Geſinnungen, Reden, Ur- theile und Handlungen nicht mehr auffallen und als ſchlecht und ſchädlich vorkommen, dann bin ich auch in Gefahr, eben die Geſinnungen und Urtheile zu äuſſern und eben das zu ſagen und zu thun, ſo bald es nur ohne ſichtbaren Nachtheil für mich geſche- hen kann. Ich kann da vielleicht in der Ein- ſamkeit und in Gegenwart guter und tugendhaf- ter Menſchen gut und tugendhaft leben; ich kann auch von meinen Pflichten völlig überzeugt ſeyn: aber die böſen Beyſpiele, die ich ſehe, finden dennoch den Weg zu meinem Herzen, ohne daß der Verſtand im- mer ihren Einfluß verhindern kann. Und wie anſteckend, wie gefährlich iſt nicht dieſe Macht der Beyſpiele bey dem weiblichen Geſchlechte! Wie blind ahmen wir nicht gemeiniglich die Thorhei- ten nach, die wir bewundert ſehen! Wie allgemein und herrſchend ſind nicht gewiſſe Fehler und Vorur- theile unter uns, die ſich immer von der Einen auf andere fortpflanzen! Wie ſehr wird nicht unſer Nachah- mungstrieb durch die falſche Schaam und durch übel- verſtandenen Ehrgeitz misgeleitet! Wie viel Thörich- tes und Schlechtes läßt uns nicht die Mode vernünf- tig und ſchön finden! In welcher reizenden einneh- menden Geſtalt erſcheint mir da oft das Laſter und be- ſchleicht mich, ehe ich es kenne und für das halte, was es iſt! Da werde ich zur Eitelkeit, zum Stolze, zur Verſchwendung, zur Zerſtreuungsſucht, zum Neide, zur Falſchheit, zur Verſtellung und zu allen gang- D 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/69
Zitationshilfe: Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/69>, abgerufen am 23.06.2024.