es die Wichtigkeit und Bestimmung eines so beträcht- lichen Abschnitts meines Lebens erfordern, so war der heutige Tag in jeder Betrachtung ein merkwürdiger Tag für mich. Denn nicht nur die großen und aus- serordentlichen Begebenheiten, nicht blos die seltenen und Bewunderung erregenden Vorfälle, die ich erlebe, machen die Merkwürdigkeit eines Tages für mich aus. Nein, die Art und Weise, wie ich alle, größere und geringere, Umstände, alle wichtigere und unwichtigere Veränderungen meines Zustandes benutze, die berech- tiget mich noch weit mehr, einen Tag meines Lebens vor vielen andern merkwürdig zu nennen.
Gewiß fehlte es mir heute nicht an Gelegenheit, Gutes zu thun und Böses zu verhindern. Als ein Glied der Gesellschaft, als Gattin und Hausfrau und Mutter stehe ich in mannichfaltigen Verbindungen und Verhältnissen mit andern, habe gewisse Pflichten ge- gen dieselben zu beobachten, bin ihnen mancherley Dienste schuldig. Jch sehe Reiche, Mächtige, Ge- ehrte, die ich nicht beneiden, denen ich ihre irrdischen Vorzüge nicht misgönnen soll. Jch sehe Arme, Nie- drige, Geringe, die ich nicht verachten, denen ich nicht mit Stolz und Geringschätzung begegnen darf, denen ich Hülfe und Unterstützung zu leisten schuldig bin. Jch habe Freunde, und bey aller Liebe, die ich für dieselben fühle, ist es Pflicht für mich, ihre Fehler nicht als Tugenden zu preisen und aus Anhänglichkeit an dieselben nicht ungerecht gegen Fremde zu werden. Jch habe Feinde, und die Religion gebietet mir, sie nicht zu hassen und zu verfolgen, sondern ihnen zu
verzei-
Abendgebet einer Mutter.
es die Wichtigkeit und Beſtimmung eines ſo beträcht- lichen Abſchnitts meines Lebens erfordern, ſo war der heutige Tag in jeder Betrachtung ein merkwürdiger Tag für mich. Denn nicht nur die großen und auſ- ſerordentlichen Begebenheiten, nicht blos die ſeltenen und Bewunderung erregenden Vorfälle, die ich erlebe, machen die Merkwürdigkeit eines Tages für mich aus. Nein, die Art und Weiſe, wie ich alle, größere und geringere, Umſtände, alle wichtigere und unwichtigere Veränderungen meines Zuſtandes benutze, die berech- tiget mich noch weit mehr, einen Tag meines Lebens vor vielen andern merkwürdig zu nennen.
Gewiß fehlte es mir heute nicht an Gelegenheit, Gutes zu thun und Böſes zu verhindern. Als ein Glied der Geſellſchaft, als Gattin und Hausfrau und Mutter ſtehe ich in mannichfaltigen Verbindungen und Verhältniſſen mit andern, habe gewiſſe Pflichten ge- gen dieſelben zu beobachten, bin ihnen mancherley Dienſte ſchuldig. Jch ſehe Reiche, Mächtige, Ge- ehrte, die ich nicht beneiden, denen ich ihre irrdiſchen Vorzüge nicht misgönnen ſoll. Jch ſehe Arme, Nie- drige, Geringe, die ich nicht verachten, denen ich nicht mit Stolz und Geringſchätzung begegnen darf, denen ich Hülfe und Unterſtützung zu leiſten ſchuldig bin. Jch habe Freunde, und bey aller Liebe, die ich für dieſelben fühle, iſt es Pflicht für mich, ihre Fehler nicht als Tugenden zu preiſen und aus Anhänglichkeit an dieſelben nicht ungerecht gegen Fremde zu werden. Jch habe Feinde, und die Religion gebietet mir, ſie nicht zu haſſen und zu verfolgen, ſondern ihnen zu
verzei-
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Abendgebet einer Mutter.
es die Wichtigkeit und Beſtimmung eines ſo beträcht-
lichen Abſchnitts meines Lebens erfordern, ſo war der
heutige Tag in jeder Betrachtung ein merkwürdiger
Tag für mich. Denn nicht nur die großen und auſ-
ſerordentlichen Begebenheiten, nicht blos die ſeltenen
und Bewunderung erregenden Vorfälle, die ich erlebe,
machen die Merkwürdigkeit eines Tages für mich aus.
Nein, die Art und Weiſe, wie ich alle, größere und
geringere, Umſtände, alle wichtigere und unwichtigere
Veränderungen meines Zuſtandes benutze, die berech-
tiget mich noch weit mehr, einen Tag meines Lebens
vor vielen andern merkwürdig zu nennen.
Gewiß fehlte es mir heute nicht an Gelegenheit,
Gutes zu thun und Böſes zu verhindern. Als ein
Glied der Geſellſchaft, als Gattin und Hausfrau und
Mutter ſtehe ich in mannichfaltigen Verbindungen und
Verhältniſſen mit andern, habe gewiſſe Pflichten ge-
gen dieſelben zu beobachten, bin ihnen mancherley
Dienſte ſchuldig. Jch ſehe Reiche, Mächtige, Ge-
ehrte, die ich nicht beneiden, denen ich ihre irrdiſchen
Vorzüge nicht misgönnen ſoll. Jch ſehe Arme, Nie-
drige, Geringe, die ich nicht verachten, denen ich nicht
mit Stolz und Geringſchätzung begegnen darf, denen
ich Hülfe und Unterſtützung zu leiſten ſchuldig bin.
Jch habe Freunde, und bey aller Liebe, die ich für
dieſelben fühle, iſt es Pflicht für mich, ihre Fehler
nicht als Tugenden zu preiſen und aus Anhänglichkeit
an dieſelben nicht ungerecht gegen Fremde zu werden.
Jch habe Feinde, und die Religion gebietet mir, ſie
nicht zu haſſen und zu verfolgen, ſondern ihnen zu
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Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/338>, abgerufen am 28.06.2024.
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