Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite

Abendgebet einer Mutter.
siehet nicht auf den Weg zurück, welchen er überstan-
den hat! Welcher Wanderer stehet nicht oft auf sei-
nem Pfade still, um neue Kräfte zu sammeln, oder
um die Länge des zurückgelegten Weges zu betrachten,
oder um noch einen liebevollen Blick auf die ihm so
theure Gegend zu werfen, oder um darüber zu berath-
schlagen, ob er auf dem rechten oder falschen Wege sey,
ob er auf seinem Wege fortgehen oder einen andern
wählen müsse! -- Und ich sollte nicht am Schlusse
eines Tages, eines so wichtigen Zeitabschnitts ein
Gleiches thun! Jch sollte nicht jeden Abend auf mei-
ne beendigte Laufbahn zurücksehen, nicht darüber nach-
denken, wohin wohl endlich dieselbe führen und was
ich auf derselben erwarten oder nicht erwarten dürfe!
Ja, diesem Nachdenken, o Gott, sey die gegenwärti-
ge Stunde gewidmet, die feyerliche Stunde der nächt-
lichen Stille, wo mich die schweigende Natur zur Un-
terhaltung mit dir, dem Unsichtbaren, einladet und
wo alles um mich herum dieses erhabene Geschäffte be-
günstiget.

Wie wichtig ein Tag meines Lebens sey, wel-
chen großen Einfluß ein jeder habe, welche zahlreiche
und ins Unendliche sich erstreckende Folgen aus der An-
wendung eines einzigen Tages für mich und andere
entstehen können, das habe ich diesen Morgen erkannt
und gefühlt, das war mir Ermunterung und Antrieb,
den heutigen Tag recht weise zu gebrauchen und meine
Pflichten an demselben recht genau und sorgfältig zu
erfüllen. Bin ich diesem rühmlichen Vorsatze treu
geblieben, habe ich stets so gedacht und gehandelt, wie

es
X 3

Abendgebet einer Mutter.
ſiehet nicht auf den Weg zurück, welchen er überſtan-
den hat! Welcher Wanderer ſtehet nicht oft auf ſei-
nem Pfade ſtill, um neue Kräfte zu ſammeln, oder
um die Länge des zurückgelegten Weges zu betrachten,
oder um noch einen liebevollen Blick auf die ihm ſo
theure Gegend zu werfen, oder um darüber zu berath-
ſchlagen, ob er auf dem rechten oder falſchen Wege ſey,
ob er auf ſeinem Wege fortgehen oder einen andern
wählen müſſe! — Und ich ſollte nicht am Schluſſe
eines Tages, eines ſo wichtigen Zeitabſchnitts ein
Gleiches thun! Jch ſollte nicht jeden Abend auf mei-
ne beendigte Laufbahn zurückſehen, nicht darüber nach-
denken, wohin wohl endlich dieſelbe führen und was
ich auf derſelben erwarten oder nicht erwarten dürfe!
Ja, dieſem Nachdenken, o Gott, ſey die gegenwärti-
ge Stunde gewidmet, die feyerliche Stunde der nächt-
lichen Stille, wo mich die ſchweigende Natur zur Un-
terhaltung mit dir, dem Unſichtbaren, einladet und
wo alles um mich herum dieſes erhabene Geſchäffte be-
günſtiget.

Wie wichtig ein Tag meines Lebens ſey, wel-
chen großen Einfluß ein jeder habe, welche zahlreiche
und ins Unendliche ſich erſtreckende Folgen aus der An-
wendung eines einzigen Tages für mich und andere
entſtehen können, das habe ich dieſen Morgen erkannt
und gefühlt, das war mir Ermunterung und Antrieb,
den heutigen Tag recht weiſe zu gebrauchen und meine
Pflichten an demſelben recht genau und ſorgfältig zu
erfüllen. Bin ich dieſem rühmlichen Vorſatze treu
geblieben, habe ich ſtets ſo gedacht und gehandelt, wie

es
X 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0337" n="325"/><fw place="top" type="header">Abendgebet einer Mutter.</fw><lb/>
&#x017F;iehet nicht auf den Weg zurück, welchen er über&#x017F;tan-<lb/>
den hat! Welcher Wanderer &#x017F;tehet nicht oft auf &#x017F;ei-<lb/>
nem Pfade &#x017F;till, um neue Kräfte zu &#x017F;ammeln, oder<lb/>
um die Länge des zurückgelegten Weges zu betrachten,<lb/>
oder um noch einen liebevollen Blick auf die ihm &#x017F;o<lb/>
theure Gegend zu werfen, oder um darüber zu berath-<lb/>
&#x017F;chlagen, ob er auf dem rechten oder fal&#x017F;chen Wege &#x017F;ey,<lb/>
ob er auf &#x017F;einem Wege fortgehen oder einen andern<lb/>
wählen mü&#x017F;&#x017F;e! &#x2014; Und ich &#x017F;ollte nicht am Schlu&#x017F;&#x017F;e<lb/>
eines Tages, eines &#x017F;o wichtigen Zeitab&#x017F;chnitts ein<lb/>
Gleiches thun! Jch &#x017F;ollte nicht jeden Abend auf mei-<lb/>
ne beendigte Laufbahn zurück&#x017F;ehen, nicht darüber nach-<lb/>
denken, wohin wohl endlich die&#x017F;elbe führen und was<lb/>
ich auf der&#x017F;elben erwarten oder nicht erwarten dürfe!<lb/>
Ja, die&#x017F;em Nachdenken, o Gott, &#x017F;ey die gegenwärti-<lb/>
ge Stunde gewidmet, die feyerliche Stunde der nächt-<lb/>
lichen Stille, wo mich die &#x017F;chweigende Natur zur Un-<lb/>
terhaltung mit dir, dem Un&#x017F;ichtbaren, einladet und<lb/>
wo alles um mich herum die&#x017F;es erhabene Ge&#x017F;chäffte be-<lb/>
gün&#x017F;tiget.</p><lb/>
          <p>Wie wichtig ein Tag meines Lebens &#x017F;ey, wel-<lb/>
chen großen Einfluß ein jeder habe, welche zahlreiche<lb/>
und ins Unendliche &#x017F;ich er&#x017F;treckende Folgen aus der An-<lb/>
wendung eines einzigen Tages für mich und andere<lb/>
ent&#x017F;tehen können, das habe ich die&#x017F;en Morgen erkannt<lb/>
und gefühlt, das war mir Ermunterung und Antrieb,<lb/>
den heutigen Tag recht wei&#x017F;e zu gebrauchen und meine<lb/>
Pflichten an dem&#x017F;elben recht genau und &#x017F;orgfältig zu<lb/>
erfüllen. Bin ich die&#x017F;em rühmlichen Vor&#x017F;atze treu<lb/>
geblieben, habe ich &#x017F;tets &#x017F;o gedacht und gehandelt, wie<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">X 3</fw><fw place="bottom" type="catch">es</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[325/0337] Abendgebet einer Mutter. ſiehet nicht auf den Weg zurück, welchen er überſtan- den hat! Welcher Wanderer ſtehet nicht oft auf ſei- nem Pfade ſtill, um neue Kräfte zu ſammeln, oder um die Länge des zurückgelegten Weges zu betrachten, oder um noch einen liebevollen Blick auf die ihm ſo theure Gegend zu werfen, oder um darüber zu berath- ſchlagen, ob er auf dem rechten oder falſchen Wege ſey, ob er auf ſeinem Wege fortgehen oder einen andern wählen müſſe! — Und ich ſollte nicht am Schluſſe eines Tages, eines ſo wichtigen Zeitabſchnitts ein Gleiches thun! Jch ſollte nicht jeden Abend auf mei- ne beendigte Laufbahn zurückſehen, nicht darüber nach- denken, wohin wohl endlich dieſelbe führen und was ich auf derſelben erwarten oder nicht erwarten dürfe! Ja, dieſem Nachdenken, o Gott, ſey die gegenwärti- ge Stunde gewidmet, die feyerliche Stunde der nächt- lichen Stille, wo mich die ſchweigende Natur zur Un- terhaltung mit dir, dem Unſichtbaren, einladet und wo alles um mich herum dieſes erhabene Geſchäffte be- günſtiget. Wie wichtig ein Tag meines Lebens ſey, wel- chen großen Einfluß ein jeder habe, welche zahlreiche und ins Unendliche ſich erſtreckende Folgen aus der An- wendung eines einzigen Tages für mich und andere entſtehen können, das habe ich dieſen Morgen erkannt und gefühlt, das war mir Ermunterung und Antrieb, den heutigen Tag recht weiſe zu gebrauchen und meine Pflichten an demſelben recht genau und ſorgfältig zu erfüllen. Bin ich dieſem rühmlichen Vorſatze treu geblieben, habe ich ſtets ſo gedacht und gehandelt, wie es X 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/337
Zitationshilfe: Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/337>, abgerufen am 24.11.2024.