Ja, jeder Tag ist für ein vernünftiges, denken- des, moralisches Geschöpf von der größten Wichtig- keit. Und wie könnte dieses anders seyn, da ein sol- ches Geschöpf an einem einzigen Tage sich seinem Ziele um ein beträchtliches nahern und weit davon entfernen, viel Gutes und viel Böses thun und beför- dern, viel Glückseligkeit genießen und verbreiten, viel Elend empfinden und über andere verhängen kann! Welch eine lange, unzertrennliche Kette ist nicht unser Leben! Wie genau hängen nicht alle unsre Gedanken und Neigungen mit einander zusammen! Wie noth- wendig folgt nicht Ein Wunsch aus dem andern und Eine Begierde aus der andern! Welches Urtheil veranlasset nicht mehrere Urtheile und welche That er- zeuget nicht mehrere Thaten bey uns! Und wie vie- ler Gedanken und Neigungen und Wünsche und Be- gierden und Urtheile und Thaten sind wir nicht an ei- nem einzigen Tage fähig, da unser Geist nie rastet und stets mit etwas, sey es gut oder böse, beschäffti- get ist! Welch eine lange Reihe von guten Folgen kann also Ein Tag für mich haben, an dem ich alle meine Pflichten recht gewissenhaft erfülle, an dem ich jede Gelegenheit, Gutes zu thun und zu befördern, benutze, an dem ich jedes Böse, wenn es in meiner Macht stehet, verhindere, an dem ich so denke und handle, wie ich als ein vernünftiger und unsterblicher Mensch und als eine Schülerin des Christenthums denken und handeln soll! Und welch eine fürchter- liche, unübersehbare Reihe von bösen Wirkungen, von Schmerz und Reue und Kummer und Elend kann
nicht
Morgengebet einer Mutter.
Ja, jeder Tag iſt für ein vernünftiges, denken- des, moraliſches Geſchöpf von der größten Wichtig- keit. Und wie könnte dieſes anders ſeyn, da ein ſol- ches Geſchöpf an einem einzigen Tage ſich ſeinem Ziele um ein beträchtliches nahern und weit davon entfernen, viel Gutes und viel Böſes thun und beför- dern, viel Glückſeligkeit genießen und verbreiten, viel Elend empfinden und über andere verhängen kann! Welch eine lange, unzertrennliche Kette iſt nicht unſer Leben! Wie genau hängen nicht alle unſre Gedanken und Neigungen mit einander zuſammen! Wie noth- wendig folgt nicht Ein Wunſch aus dem andern und Eine Begierde aus der andern! Welches Urtheil veranlaſſet nicht mehrere Urtheile und welche That er- zeuget nicht mehrere Thaten bey uns! Und wie vie- ler Gedanken und Neigungen und Wünſche und Be- gierden und Urtheile und Thaten ſind wir nicht an ei- nem einzigen Tage fähig, da unſer Geiſt nie raſtet und ſtets mit etwas, ſey es gut oder böſe, beſchäffti- get iſt! Welch eine lange Reihe von guten Folgen kann alſo Ein Tag für mich haben, an dem ich alle meine Pflichten recht gewiſſenhaft erfülle, an dem ich jede Gelegenheit, Gutes zu thun und zu befördern, benutze, an dem ich jedes Böſe, wenn es in meiner Macht ſtehet, verhindere, an dem ich ſo denke und handle, wie ich als ein vernünftiger und unſterblicher Menſch und als eine Schülerin des Chriſtenthums denken und handeln ſoll! Und welch eine fürchter- liche, unüberſehbare Reihe von böſen Wirkungen, von Schmerz und Reue und Kummer und Elend kann
nicht
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0332"n="320"/><fwplace="top"type="header">Morgengebet einer Mutter.</fw><lb/><p>Ja, jeder Tag iſt für ein vernünftiges, denken-<lb/>
des, moraliſches Geſchöpf von der größten Wichtig-<lb/>
keit. Und wie könnte dieſes anders ſeyn, da ein ſol-<lb/>
ches Geſchöpf an einem einzigen Tage ſich ſeinem<lb/>
Ziele um ein beträchtliches nahern und weit davon<lb/>
entfernen, viel Gutes und viel Böſes thun und beför-<lb/>
dern, viel Glückſeligkeit genießen und verbreiten, viel<lb/>
Elend empfinden und über andere verhängen kann!<lb/>
Welch eine lange, unzertrennliche Kette iſt nicht unſer<lb/>
Leben! Wie genau hängen nicht alle unſre Gedanken<lb/>
und Neigungen mit einander zuſammen! Wie noth-<lb/>
wendig folgt nicht Ein Wunſch aus dem andern und<lb/>
Eine Begierde aus der andern! Welches Urtheil<lb/>
veranlaſſet nicht mehrere Urtheile und welche That er-<lb/>
zeuget nicht mehrere Thaten bey uns! Und wie vie-<lb/>
ler Gedanken und Neigungen und Wünſche und Be-<lb/>
gierden und Urtheile und Thaten ſind wir nicht an ei-<lb/>
nem einzigen Tage fähig, da unſer Geiſt nie raſtet<lb/>
und ſtets mit etwas, ſey es gut oder böſe, beſchäffti-<lb/>
get iſt! Welch eine lange Reihe von guten Folgen<lb/>
kann alſo Ein Tag für mich haben, an dem ich alle<lb/>
meine Pflichten recht gewiſſenhaft erfülle, an dem ich<lb/>
jede Gelegenheit, Gutes zu thun und zu befördern,<lb/>
benutze, an dem ich jedes Böſe, wenn es in meiner<lb/>
Macht ſtehet, verhindere, an dem ich ſo denke und<lb/>
handle, wie ich als ein vernünftiger und unſterblicher<lb/>
Menſch und als eine Schülerin des Chriſtenthums<lb/>
denken und handeln ſoll! Und welch eine fürchter-<lb/>
liche, unüberſehbare Reihe von böſen Wirkungen, von<lb/>
Schmerz und Reue und Kummer und Elend kann<lb/><fwplace="bottom"type="catch">nicht</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[320/0332]
Morgengebet einer Mutter.
Ja, jeder Tag iſt für ein vernünftiges, denken-
des, moraliſches Geſchöpf von der größten Wichtig-
keit. Und wie könnte dieſes anders ſeyn, da ein ſol-
ches Geſchöpf an einem einzigen Tage ſich ſeinem
Ziele um ein beträchtliches nahern und weit davon
entfernen, viel Gutes und viel Böſes thun und beför-
dern, viel Glückſeligkeit genießen und verbreiten, viel
Elend empfinden und über andere verhängen kann!
Welch eine lange, unzertrennliche Kette iſt nicht unſer
Leben! Wie genau hängen nicht alle unſre Gedanken
und Neigungen mit einander zuſammen! Wie noth-
wendig folgt nicht Ein Wunſch aus dem andern und
Eine Begierde aus der andern! Welches Urtheil
veranlaſſet nicht mehrere Urtheile und welche That er-
zeuget nicht mehrere Thaten bey uns! Und wie vie-
ler Gedanken und Neigungen und Wünſche und Be-
gierden und Urtheile und Thaten ſind wir nicht an ei-
nem einzigen Tage fähig, da unſer Geiſt nie raſtet
und ſtets mit etwas, ſey es gut oder böſe, beſchäffti-
get iſt! Welch eine lange Reihe von guten Folgen
kann alſo Ein Tag für mich haben, an dem ich alle
meine Pflichten recht gewiſſenhaft erfülle, an dem ich
jede Gelegenheit, Gutes zu thun und zu befördern,
benutze, an dem ich jedes Böſe, wenn es in meiner
Macht ſtehet, verhindere, an dem ich ſo denke und
handle, wie ich als ein vernünftiger und unſterblicher
Menſch und als eine Schülerin des Chriſtenthums
denken und handeln ſoll! Und welch eine fürchter-
liche, unüberſehbare Reihe von böſen Wirkungen, von
Schmerz und Reue und Kummer und Elend kann
nicht
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/332>, abgerufen am 28.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.