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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.

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Entsagung des Stolzes.

Ja, noch bin ich das nicht, o Gott, was ich
seyn soll, und konnte es noch nicht werden. Noch
habe ich meine Bestimmung nicht erreicht, und ver-
mochte sie noch nicht zu erreichen. Noch bin ich eine
Anfängerin in der Schule der Weisheit und Tugend
und habe kaum die ersten schwachen Schritte auf dem
Wege gethan, der mich zu meiner Vollendung füh-
ret. Und wenn ich -- welches doch ganz gewiß
nicht ist -- wenn ich das wirklich wäre, was ich mir
zu seyn und zu werden wünsche, wenn ich alle die
Vorzüge schon besäße, die ich zu besitzen strebe, wenn
ich mir wahre, allgemein anerkannte Berdienste er-
worben hätte, würde ich mich da wohl dem Stolze
überlassen können und wollen? Nein, der wahrhaft
weise und gute Mensch ist nie stolz und kann es nicht
seyn. Wer wirkliche Verdienste besitzt, der ist be-
scheiden und überhebt sich nie seiner Vorzüge, weil
eben diese Bescheidenheit und Demuth ein neues Ver-
dienst und ein neuer Vorzug ist. Wer seine Mängel
und Unvollkommenheiten siehet und fühlet, wer es
weis, wie viel ihm noch zu thun, zu lernen, zu
bestreiten, zu erringen, zu verbessern übrig ist, wer
in dieser Rücksicht das Gute, welches andere an sich
haben, erkennet und schätzet, wer so wohl den höhern
Verdiensten als den geringern Vorzügen seiner Brüder
und Schwestern Gerechtigkeit widerfahren läßt, wer
also verständig und tugendhaft ist, der kann schon aus
dieser Ursache nicht stolz und eitel seyn.

Und so blieben mir denn nur leere und eingebil-
dete Vorzüge übrig, die meinem Stolze Nahrung

geben
I 3
Entſagung des Stolzes.

Ja, noch bin ich das nicht, o Gott, was ich
ſeyn ſoll, und konnte es noch nicht werden. Noch
habe ich meine Beſtimmung nicht erreicht, und ver-
mochte ſie noch nicht zu erreichen. Noch bin ich eine
Anfängerin in der Schule der Weisheit und Tugend
und habe kaum die erſten ſchwachen Schritte auf dem
Wege gethan, der mich zu meiner Vollendung füh-
ret. Und wenn ich — welches doch ganz gewiß
nicht iſt — wenn ich das wirklich wäre, was ich mir
zu ſeyn und zu werden wünſche, wenn ich alle die
Vorzüge ſchon beſäße, die ich zu beſitzen ſtrebe, wenn
ich mir wahre, allgemein anerkannte Berdienſte er-
worben hätte, würde ich mich da wohl dem Stolze
überlaſſen können und wollen? Nein, der wahrhaft
weiſe und gute Menſch iſt nie ſtolz und kann es nicht
ſeyn. Wer wirkliche Verdienſte beſitzt, der iſt be-
ſcheiden und überhebt ſich nie ſeiner Vorzüge, weil
eben dieſe Beſcheidenheit und Demuth ein neues Ver-
dienſt und ein neuer Vorzug iſt. Wer ſeine Mängel
und Unvollkommenheiten ſiehet und fühlet, wer es
weis, wie viel ihm noch zu thun, zu lernen, zu
beſtreiten, zu erringen, zu verbeſſern übrig iſt, wer
in dieſer Rückſicht das Gute, welches andere an ſich
haben, erkennet und ſchätzet, wer ſo wohl den höhern
Verdienſten als den geringern Vorzügen ſeiner Brüder
und Schweſtern Gerechtigkeit widerfahren läßt, wer
alſo verſtändig und tugendhaft iſt, der kann ſchon aus
dieſer Urſache nicht ſtolz und eitel ſeyn.

Und ſo blieben mir denn nur leere und eingebil-
dete Vorzüge übrig, die meinem Stolze Nahrung

geben
I 3
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[133/0145] Entſagung des Stolzes. Ja, noch bin ich das nicht, o Gott, was ich ſeyn ſoll, und konnte es noch nicht werden. Noch habe ich meine Beſtimmung nicht erreicht, und ver- mochte ſie noch nicht zu erreichen. Noch bin ich eine Anfängerin in der Schule der Weisheit und Tugend und habe kaum die erſten ſchwachen Schritte auf dem Wege gethan, der mich zu meiner Vollendung füh- ret. Und wenn ich — welches doch ganz gewiß nicht iſt — wenn ich das wirklich wäre, was ich mir zu ſeyn und zu werden wünſche, wenn ich alle die Vorzüge ſchon beſäße, die ich zu beſitzen ſtrebe, wenn ich mir wahre, allgemein anerkannte Berdienſte er- worben hätte, würde ich mich da wohl dem Stolze überlaſſen können und wollen? Nein, der wahrhaft weiſe und gute Menſch iſt nie ſtolz und kann es nicht ſeyn. Wer wirkliche Verdienſte beſitzt, der iſt be- ſcheiden und überhebt ſich nie ſeiner Vorzüge, weil eben dieſe Beſcheidenheit und Demuth ein neues Ver- dienſt und ein neuer Vorzug iſt. Wer ſeine Mängel und Unvollkommenheiten ſiehet und fühlet, wer es weis, wie viel ihm noch zu thun, zu lernen, zu beſtreiten, zu erringen, zu verbeſſern übrig iſt, wer in dieſer Rückſicht das Gute, welches andere an ſich haben, erkennet und ſchätzet, wer ſo wohl den höhern Verdienſten als den geringern Vorzügen ſeiner Brüder und Schweſtern Gerechtigkeit widerfahren läßt, wer alſo verſtändig und tugendhaft iſt, der kann ſchon aus dieſer Urſache nicht ſtolz und eitel ſeyn. Und ſo blieben mir denn nur leere und eingebil- dete Vorzüge übrig, die meinem Stolze Nahrung geben I 3

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Zitationshilfe: Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/145>, abgerufen am 24.11.2024.