Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.Entsagung des Stolzes. geben könnten. Aber welche Thorheit, welcher Wi-derspruch ist es nicht, sich solcher Dinge zu überhe- ben, die keinen innern Werth haben, die entweder blos zufällig oder eingebildet sind! Soll ich auf meine Geburt und auf den Rang meiner Familie stolz seyn? Wie lächerlich würde ich mich dadurch machen! Was habe denn ich zu dem Glanze meines Hauses beygetragen oder beytragen können? Sind denn die Tugenden, die Einsichten, die Verdienste meiner Aeltern die meinigen? Kann ich mir denn ihre Thaten und Vorzüge zuschrei- ben? Ist es nicht höchst unbillig, andere deßwegen zu verachten, weil sie von solchen herstammen, die keine Gelegenheiten und Mittel hatten, dem Staate eben die Vortheile zu verschaffen und von ihm eben die Be- lohnungen dafür zu erhalten, wodurch die Meinigen in Achtung und Ansehen gekommen sind? -- Oder ist Reichthum ein Gegenstand des Stolzes? Wie klein müßte ich denken, wenn ich im ererbten Ueber- flusse einen Grund zu diesem Laster finden könnte! Ich habe ihn ja nicht selbst, nicht durch meinen Fleiß, nicht durch meine Geschicklichkeit erworben. Er ist ja kein Beweis, daß ich besser und würdiger als an- dere bin. Er kann mich ja an sich selbst weder ver- ständiger noch tugendhafter noch zufriedner noch glück- seliger machen. Es ist ein freywilliges Geschenk, das ich aus den Händen der Meinigen erhalte, ohne Ansprüche darauf zu haben. Und ich könnte mich so sehr erniedrigen, andere Menschen weniger zu schätzen und zu ehren, weil sie unter andern Umständen und von ärmern Aeltern gebohren worden sind? -- Oder ist
Entſagung des Stolzes. geben könnten. Aber welche Thorheit, welcher Wi-derſpruch iſt es nicht, ſich ſolcher Dinge zu überhe- ben, die keinen innern Werth haben, die entweder blos zufällig oder eingebildet ſind! Soll ich auf meine Geburt und auf den Rang meiner Familie ſtolz ſeyn? Wie lächerlich würde ich mich dadurch machen! Was habe denn ich zu dem Glanze meines Hauſes beygetragen oder beytragen können? Sind denn die Tugenden, die Einſichten, die Verdienſte meiner Aeltern die meinigen? Kann ich mir denn ihre Thaten und Vorzüge zuſchrei- ben? Iſt es nicht höchſt unbillig, andere deßwegen zu verachten, weil ſie von ſolchen herſtammen, die keine Gelegenheiten und Mittel hatten, dem Staate eben die Vortheile zu verſchaffen und von ihm eben die Be- lohnungen dafür zu erhalten, wodurch die Meinigen in Achtung und Anſehen gekommen ſind? — Oder iſt Reichthum ein Gegenſtand des Stolzes? Wie klein müßte ich denken, wenn ich im ererbten Ueber- fluſſe einen Grund zu dieſem Laſter finden könnte! Ich habe ihn ja nicht ſelbſt, nicht durch meinen Fleiß, nicht durch meine Geſchicklichkeit erworben. Er iſt ja kein Beweis, daß ich beſſer und würdiger als an- dere bin. Er kann mich ja an ſich ſelbſt weder ver- ſtändiger noch tugendhafter noch zufriedner noch glück- ſeliger machen. Es iſt ein freywilliges Geſchenk, das ich aus den Händen der Meinigen erhalte, ohne Anſprüche darauf zu haben. Und ich könnte mich ſo ſehr erniedrigen, andere Menſchen weniger zu ſchätzen und zu ehren, weil ſie unter andern Umſtänden und von ärmern Aeltern gebohren worden ſind? — Oder iſt
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Entſagung des Stolzes.
geben könnten. Aber welche Thorheit, welcher Wi-
derſpruch iſt es nicht, ſich ſolcher Dinge zu überhe-
ben, die keinen innern Werth haben, die entweder
blos zufällig oder eingebildet ſind! Soll ich auf meine
Geburt und auf den Rang meiner Familie ſtolz ſeyn?
Wie lächerlich würde ich mich dadurch machen! Was
habe denn ich zu dem Glanze meines Hauſes beygetragen
oder beytragen können? Sind denn die Tugenden, die
Einſichten, die Verdienſte meiner Aeltern die meinigen?
Kann ich mir denn ihre Thaten und Vorzüge zuſchrei-
ben? Iſt es nicht höchſt unbillig, andere deßwegen zu
verachten, weil ſie von ſolchen herſtammen, die keine
Gelegenheiten und Mittel hatten, dem Staate eben
die Vortheile zu verſchaffen und von ihm eben die Be-
lohnungen dafür zu erhalten, wodurch die Meinigen
in Achtung und Anſehen gekommen ſind? — Oder
iſt Reichthum ein Gegenſtand des Stolzes? Wie
klein müßte ich denken, wenn ich im ererbten Ueber-
fluſſe einen Grund zu dieſem Laſter finden könnte!
Ich habe ihn ja nicht ſelbſt, nicht durch meinen Fleiß,
nicht durch meine Geſchicklichkeit erworben. Er iſt
ja kein Beweis, daß ich beſſer und würdiger als an-
dere bin. Er kann mich ja an ſich ſelbſt weder ver-
ſtändiger noch tugendhafter noch zufriedner noch glück-
ſeliger machen. Es iſt ein freywilliges Geſchenk,
das ich aus den Händen der Meinigen erhalte, ohne
Anſprüche darauf zu haben. Und ich könnte mich ſo
ſehr erniedrigen, andere Menſchen weniger zu ſchätzen
und zu ehren, weil ſie unter andern Umſtänden und
von ärmern Aeltern gebohren worden ſind? — Oder
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