nicht vollends dieser Stolz bey meinem Geschlechte! Wie sehr deckt er unsre Schwachheiten und Mängel auf! Welch ein beschämendes Licht wirft er auf uns, die wir so wenig Ursache haben, uns über andere zu erheben! -- Und der Stand, in welchem ich mich befinde, die Jahre, in welchen ich gegenwär- tig stehe, meine Jugend und die Erfahrung, daß ich mir bisher noch keine wahren Verdienste erworben habe und erwerben konnte, wie bescheiden und demü- thig sollte mich dieß alles machen! wie gewiß jeden Keim des Stolzes in mir unterdrücken und ausrotten!
Denn welches sind wohl bey Personen meines Gleichen die Ursachen des Stolzes? Sind es das Ge- fühl ihrer Tugend und das Bewußtseyn ihrer Einsich- ten, die ihnen eine so hohe Meinung von sich selbst einflößen? Oder haben sie schon so viel Gutes und Gemeinnütziges in ihrem Berufe, für ihre Familie, für den Staat gethan und geleistet, daß sie sich bey der Uebersicht desselben über andere erheben? Oder be- sitzen sie etwa ausschliessungsweise gewisse ausserordent- liche Vorzüge, die sie mit Verachtung auf die übrigen Menschen herabsehen lassen? Oder verleitet sie die Aussicht und Hoffnung eines zukünftigen großen Glü- ckes zu einer solchen Denkungsart? Ist es nicht thö- richt, sich in einem Alter, in welchem man erst die Laufbahn zum Verdienste antritt, schon so zu betra- gen, als ob man schon Verdienste erwerben hätte? Und ist es nicht unvernünftig, sich von Gütern und Vorzügen blenden zu lassen, deren zukünftiger Besitz noch so zweifelhaft und ungewiß ist?
Ja
Entſagung des Stolzes.
nicht vollends dieſer Stolz bey meinem Geſchlechte! Wie ſehr deckt er unſre Schwachheiten und Mängel auf! Welch ein beſchämendes Licht wirft er auf uns, die wir ſo wenig Urſache haben, uns über andere zu erheben! — Und der Stand, in welchem ich mich befinde, die Jahre, in welchen ich gegenwär- tig ſtehe, meine Jugend und die Erfahrung, daß ich mir bisher noch keine wahren Verdienſte erworben habe und erwerben konnte, wie beſcheiden und demü- thig ſollte mich dieß alles machen! wie gewiß jeden Keim des Stolzes in mir unterdrücken und ausrotten!
Denn welches ſind wohl bey Perſonen meines Gleichen die Urſachen des Stolzes? Sind es das Ge- fühl ihrer Tugend und das Bewußtſeyn ihrer Einſich- ten, die ihnen eine ſo hohe Meinung von ſich ſelbſt einflößen? Oder haben ſie ſchon ſo viel Gutes und Gemeinnütziges in ihrem Berufe, für ihre Familie, für den Staat gethan und geleiſtet, daß ſie ſich bey der Ueberſicht deſſelben über andere erheben? Oder be- ſitzen ſie etwa ausſchlieſſungsweiſe gewiſſe auſſerordent- liche Vorzüge, die ſie mit Verachtung auf die übrigen Menſchen herabſehen laſſen? Oder verleitet ſie die Ausſicht und Hoffnung eines zukünftigen großen Glü- ckes zu einer ſolchen Denkungsart? Iſt es nicht thö- richt, ſich in einem Alter, in welchem man erſt die Laufbahn zum Verdienſte antritt, ſchon ſo zu betra- gen, als ob man ſchon Verdienſte erwerben hätte? Und iſt es nicht unvernünftig, ſich von Gütern und Vorzügen blenden zu laſſen, deren zukünftiger Beſitz noch ſo zweifelhaft und ungewiß iſt?
Ja
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Entſagung des Stolzes.
nicht vollends dieſer Stolz bey meinem Geſchlechte!
Wie ſehr deckt er unſre Schwachheiten und Mängel
auf! Welch ein beſchämendes Licht wirft er auf uns,
die wir ſo wenig Urſache haben, uns über andere zu
erheben! — Und der Stand, in welchem ich
mich befinde, die Jahre, in welchen ich gegenwär-
tig ſtehe, meine Jugend und die Erfahrung, daß
ich mir bisher noch keine wahren Verdienſte erworben
habe und erwerben konnte, wie beſcheiden und demü-
thig ſollte mich dieß alles machen! wie gewiß jeden
Keim des Stolzes in mir unterdrücken und ausrotten!
Denn welches ſind wohl bey Perſonen meines
Gleichen die Urſachen des Stolzes? Sind es das Ge-
fühl ihrer Tugend und das Bewußtſeyn ihrer Einſich-
ten, die ihnen eine ſo hohe Meinung von ſich ſelbſt
einflößen? Oder haben ſie ſchon ſo viel Gutes und
Gemeinnütziges in ihrem Berufe, für ihre Familie,
für den Staat gethan und geleiſtet, daß ſie ſich bey
der Ueberſicht deſſelben über andere erheben? Oder be-
ſitzen ſie etwa ausſchlieſſungsweiſe gewiſſe auſſerordent-
liche Vorzüge, die ſie mit Verachtung auf die übrigen
Menſchen herabſehen laſſen? Oder verleitet ſie die
Ausſicht und Hoffnung eines zukünftigen großen Glü-
ckes zu einer ſolchen Denkungsart? Iſt es nicht thö-
richt, ſich in einem Alter, in welchem man erſt die
Laufbahn zum Verdienſte antritt, ſchon ſo zu betra-
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Und iſt es nicht unvernünftig, ſich von Gütern und
Vorzügen blenden zu laſſen, deren zukünftiger Beſitz
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Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/144>, abgerufen am 23.06.2024.
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