eine gewisse, untrügliche Erfahrung, daß mit dem Verluste der Unschuld auch der Verlust des häuslichen Glücks und aller Freude, aller Ruhe und Zufrieden- heit verbunden ist.
Und wie leicht, o Gott, wie leicht wird nicht die so zarte Frucht der Unschuld zerknickt und vergif- tet! Wie bald ist ein Schritt gethan, der zu dem Abgrunde des Verderbens führet! Ohne die äusserste Vorsicht, ohne die größte Behutsamkeit kann mich die sorgfältigste Erziehung, das beste Herz, der aufge- klärteste Verstand nicht vor diesem Elende schützen. Der jugendliche Leich[t]sinn, die Macht der Eitell eit, die Zerstreuungen der Mode, ein schlüpfriches, über- raschendes Buch, sind das nicht alles ganz gewöhn- liche und alltägliche Dinge, die mich in einem, oft ab- sichtlich vorbereiteten, Augenblicke von der Bahn der Tugend entfernen können? Ist nicht die Schmeiche- ley ein wirksames, schleichendes Gift, das die besten Grundsätze meines jungen, unerfahrnen Herzens erschüt- tern, meinen, obgleich sonst hellen, Verstand umne- beln und mich endlich den schändlichen Absichten des geübten Verführers überliefern kann?
O ich will und darf mich nicht der Sicherheit, dieser ungetreuen Freundin der Tugend, überlassen, die schon oft den Verlust der Unschuld beschleunigte und bewirken half. Das Gut, auf dessen Erhaltung es hier ankommt, ist zu kostbar, zu heilig, zu uner- setzlich, als daß ich mit der Rechtschaffenheit meiner Gesinnungen nicht auch die strengste Vorsicht und Wach- famkeit verbinden sollte. Schenke du mir, gütigster
Gott
Die Unſchuld.
eine gewiſſe, untrügliche Erfahrung, daß mit dem Verluſte der Unſchuld auch der Verluſt des häuslichen Glücks und aller Freude, aller Ruhe und Zufrieden- heit verbunden iſt.
Und wie leicht, o Gott, wie leicht wird nicht die ſo zarte Frucht der Unſchuld zerknickt und vergif- tet! Wie bald iſt ein Schritt gethan, der zu dem Abgrunde des Verderbens führet! Ohne die äuſſerſte Vorſicht, ohne die größte Behutſamkeit kann mich die ſorgfältigſte Erziehung, das beſte Herz, der aufge- klärteſte Verſtand nicht vor dieſem Elende ſchützen. Der jugendliche Leich[t]ſinn, die Macht der Eitell eit, die Zerſtreuungen der Mode, ein ſchlüpfriches, über- raſchendes Buch, ſind das nicht alles ganz gewöhn- liche und alltägliche Dinge, die mich in einem, oft ab- ſichtlich vorbereiteten, Augenblicke von der Bahn der Tugend entfernen können? Iſt nicht die Schmeiche- ley ein wirkſames, ſchleichendes Gift, das die beſten Grundſätze meines jungen, unerfahrnen Herzens erſchüt- tern, meinen, obgleich ſonſt hellen, Verſtand umne- beln und mich endlich den ſchändlichen Abſichten des geübten Verführers überliefern kann?
O ich will und darf mich nicht der Sicherheit, dieſer ungetreuen Freundin der Tugend, überlaſſen, die ſchon oft den Verluſt der Unſchuld beſchleunigte und bewirken half. Das Gut, auf deſſen Erhaltung es hier ankommt, iſt zu koſtbar, zu heilig, zu uner- ſetzlich, als daß ich mit der Rechtſchaffenheit meiner Geſinnungen nicht auch die ſtrengſte Vorſicht und Wach- famkeit verbinden ſollte. Schenke du mir, gütigſter
Gott
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Die Unſchuld.
eine gewiſſe, untrügliche Erfahrung, daß mit dem
Verluſte der Unſchuld auch der Verluſt des häuslichen
Glücks und aller Freude, aller Ruhe und Zufrieden-
heit verbunden iſt.
Und wie leicht, o Gott, wie leicht wird nicht
die ſo zarte Frucht der Unſchuld zerknickt und vergif-
tet! Wie bald iſt ein Schritt gethan, der zu dem
Abgrunde des Verderbens führet! Ohne die äuſſerſte
Vorſicht, ohne die größte Behutſamkeit kann mich die
ſorgfältigſte Erziehung, das beſte Herz, der aufge-
klärteſte Verſtand nicht vor dieſem Elende ſchützen.
Der jugendliche Leichtſinn, die Macht der Eitell eit,
die Zerſtreuungen der Mode, ein ſchlüpfriches, über-
raſchendes Buch, ſind das nicht alles ganz gewöhn-
liche und alltägliche Dinge, die mich in einem, oft ab-
ſichtlich vorbereiteten, Augenblicke von der Bahn der
Tugend entfernen können? Iſt nicht die Schmeiche-
ley ein wirkſames, ſchleichendes Gift, das die beſten
Grundſätze meines jungen, unerfahrnen Herzens erſchüt-
tern, meinen, obgleich ſonſt hellen, Verſtand umne-
beln und mich endlich den ſchändlichen Abſichten des
geübten Verführers überliefern kann?
O ich will und darf mich nicht der Sicherheit,
dieſer ungetreuen Freundin der Tugend, überlaſſen,
die ſchon oft den Verluſt der Unſchuld beſchleunigte und
bewirken half. Das Gut, auf deſſen Erhaltung es
hier ankommt, iſt zu koſtbar, zu heilig, zu uner-
ſetzlich, als daß ich mit der Rechtſchaffenheit meiner
Geſinnungen nicht auch die ſtrengſte Vorſicht und Wach-
famkeit verbinden ſollte. Schenke du mir, gütigſter
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Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/110>, abgerufen am 23.06.2024.
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