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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.

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Die Unschuld.
und Gram und Kummer nehmen deren Stelle ein.
Und ziehet nicht in sehr vielen, ziehet nicht in den
allermeisten Fällen der Verlust der Unschuld auch
den Verlust der Ehre nach sich? Sind nicht Spott
und Verachtung die allgemeinen Waffen aller leichtsin-
nigen und schadenfrohen Menschen, womit sie eine un-
glücklich gewordene vollends niederschlagen? Wird nicht
die gefallene weibliche Tugend der öffentlichen Schan-
de Preis gegeben? Spricht nicht das herrschende Vor-
urtheil einer solchen Person alles Gute und alle Ach-
tung ab? Ja, mit der Unschuld fällt auch die stärk-
ste Stütze des irrdischen Glücks und des häuslichen
Wohlstandes dahin. Der Weg des Lasters ist nicht
der Weg, auf welchem ich das Ziel meiner weiblichen
Bestimmung erreichen; der Ruf, in welchem ich
da stehe, ist nicht derjenige, der andern von meinem
Verstande und Herzen eine gute Meinung geben und
mich für die Welt nützlich und brauchbar machen kann.
Nein, unzähliche meines Geschlechts müssen sich oft
für einen einzigen solchen Fehltritt Zeitlebens zurück-
gesetzt, verachtet, verworfen sehen. -- Und wel-
cher Schmerz würde meine Brust zerreißen, wenn
ich mich zugleich als die Ursache der Leiden betrachten
müßte, die auch andere meinetwegen träfen! Was
würde ich dabey empfinden, wenn ich das blasse,
vom Gram abgezehrte Gesicht einer empfindsamen
Mutter, die durch Schwermuth entstellte Miene eines
theilnehmenden Vaters, den allgemeinen Kummer
einer durch mich in Traurigkeit versetzten Familie sähe!
Nein, es ist keine leere Vorstellung, es ist und bleibt

eine
G

Die Unſchuld.
und Gram und Kummer nehmen deren Stelle ein.
Und ziehet nicht in ſehr vielen, ziehet nicht in den
allermeiſten Fällen der Verluſt der Unſchuld auch
den Verluſt der Ehre nach ſich? Sind nicht Spott
und Verachtung die allgemeinen Waffen aller leichtſin-
nigen und ſchadenfrohen Menſchen, womit ſie eine un-
glücklich gewordene vollends niederſchlagen? Wird nicht
die gefallene weibliche Tugend der öffentlichen Schan-
de Preis gegeben? Spricht nicht das herrſchende Vor-
urtheil einer ſolchen Perſon alles Gute und alle Ach-
tung ab? Ja, mit der Unſchuld fällt auch die ſtärk-
ſte Stütze des irrdiſchen Glücks und des häuslichen
Wohlſtandes dahin. Der Weg des Laſters iſt nicht
der Weg, auf welchem ich das Ziel meiner weiblichen
Beſtimmung erreichen; der Ruf, in welchem ich
da ſtehe, iſt nicht derjenige, der andern von meinem
Verſtande und Herzen eine gute Meinung geben und
mich für die Welt nützlich und brauchbar machen kann.
Nein, unzähliche meines Geſchlechts müſſen ſich oft
für einen einzigen ſolchen Fehltritt Zeitlebens zurück-
geſetzt, verachtet, verworfen ſehen. — Und wel-
cher Schmerz würde meine Bruſt zerreißen, wenn
ich mich zugleich als die Urſache der Leiden betrachten
müßte, die auch andere meinetwegen träfen! Was
würde ich dabey empfinden, wenn ich das blaſſe,
vom Gram abgezehrte Geſicht einer empfindſamen
Mutter, die durch Schwermuth entſtellte Miene eines
theilnehmenden Vaters, den allgemeinen Kummer
einer durch mich in Traurigkeit verſetzten Familie ſähe!
Nein, es iſt keine leere Vorſtellung, es iſt und bleibt

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[97/0109] Die Unſchuld. und Gram und Kummer nehmen deren Stelle ein. Und ziehet nicht in ſehr vielen, ziehet nicht in den allermeiſten Fällen der Verluſt der Unſchuld auch den Verluſt der Ehre nach ſich? Sind nicht Spott und Verachtung die allgemeinen Waffen aller leichtſin- nigen und ſchadenfrohen Menſchen, womit ſie eine un- glücklich gewordene vollends niederſchlagen? Wird nicht die gefallene weibliche Tugend der öffentlichen Schan- de Preis gegeben? Spricht nicht das herrſchende Vor- urtheil einer ſolchen Perſon alles Gute und alle Ach- tung ab? Ja, mit der Unſchuld fällt auch die ſtärk- ſte Stütze des irrdiſchen Glücks und des häuslichen Wohlſtandes dahin. Der Weg des Laſters iſt nicht der Weg, auf welchem ich das Ziel meiner weiblichen Beſtimmung erreichen; der Ruf, in welchem ich da ſtehe, iſt nicht derjenige, der andern von meinem Verſtande und Herzen eine gute Meinung geben und mich für die Welt nützlich und brauchbar machen kann. Nein, unzähliche meines Geſchlechts müſſen ſich oft für einen einzigen ſolchen Fehltritt Zeitlebens zurück- geſetzt, verachtet, verworfen ſehen. — Und wel- cher Schmerz würde meine Bruſt zerreißen, wenn ich mich zugleich als die Urſache der Leiden betrachten müßte, die auch andere meinetwegen träfen! Was würde ich dabey empfinden, wenn ich das blaſſe, vom Gram abgezehrte Geſicht einer empfindſamen Mutter, die durch Schwermuth entſtellte Miene eines theilnehmenden Vaters, den allgemeinen Kummer einer durch mich in Traurigkeit verſetzten Familie ſähe! Nein, es iſt keine leere Vorſtellung, es iſt und bleibt eine G

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Zitationshilfe: Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/109>, abgerufen am 24.11.2024.