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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 2. Heidelberg und Leipzig, 1856.

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Muskeln.
Kali, 9,15 Phosphorsäure und 0,42 Kieselsäure bestanden. Analysen der
entfetteten Hirnmasse theilt v. Bibra *) mit.

Der Gefässreichthum der Nervencentren und insbesondere derjenige
der grauen Substanz erwecken die Vermuthung, dass dort eine lebhafte
chemische Thätigkeit stattfinden möge; diese Anschauung wird unterstützt
durch die bekannte Erfahrung, dass das Hirn rasch abstirbt, wenn der
Strom des arteriellen Blutes zum Hirn oder Rückenmark nur kurze
Zeit unterbrochen ist. Hiergegen spricht aber scheinbar die mehrfach
bestätigte Erfahrung Chossat's, dass das Hirn verhungerter Thiere im
Gegensatz zu Fett, Muskeln u. s. w. einen nur unb[ede]utenden Gewichts-
verlust erlitten hat; eine kurze Ueberlegung führt uns aber sogleich noch
eine andere Erklärung dieser Erscheinung zu; denn es steht uns nichts
entgegen, anzunehmen, es sei das Hirn mit so energischer Verwandt-
schaft zu den Blutbestandtheilen begabt, dass es auch noch aus dem
Blut des hungernden Thiers, gleichsam auf Kosten der übrigen Organe,
den Verlust ersetze, welchen es während seines Bestehens fortdauernd
erleidet. -- Da die chemische Zusammensetzung des Hirns nicht überall
dieselbe ist, so wird es daraus wenigstens ganz im Groben erklärlich,
warum Gifte, insbesondere Kohlensäure und Narkotika nicht alle Orte
desselben gleichmässig angreifen, so dass z. B. Digitalin die Ursprünge
des n. vagus, Opium die mit dem Bewusstsein in Verbindung stehenden
Stellen, Kohlensäure eher das grosse Gehirn als das verlängerte Mark
abtödtet.

Muskeln.

Der anatomische und chemische Bau der glatten und gestreiften
Muskelröhre ist schon abgehandelt **).

1. Ernährungserscheinungen. Die Muskelröhre entsteht ursprüng-
lich aus einer oder mehreren verlängerten und mit einander verwachse-
nen Primitivzellen; der Hohlraum dieser Röhre füllt sich dann von der
Peripherie gegen das Centrum hin mit kleinen Prismen oder Fasern. In
der Fötalperiode entsteht ein Muskelrohr nur dann, wenn die ihm zuge-
hörigen Nerven vorhanden sind (E. H. und Ed Weber) ***). Im erwach-
senen Individuum gehört ihre Neubildung ebenso wie die Verheilung
eines durchschnittenen Rohres mit Muskelsubstanz zu den höchsten Sel-
tenheiten; sie ist nur zweimal von Rokitansky und Virchow +) beob-
achtet worden; ob sich mit ihnen gleichzeitig Nerven entwickelten? --
Bei dem Wachsthum der Muskeln nimmt nicht die Zahl, sondern der
Umfang der in ihnen enthaltenen Röhren zu (Harting, Hepp) ++). Da-
mit in Uebereinstimmung fand Liebig, dass verdünnte Salzsäure,

*) Vergl. Untersuchungen u. s. w. p. 75.
**) I. Bd. p. 312 u. 349.
***) Leipziger Berichte. 1849. p. 136.
+) Kölliker, Handbuch der Gewebelehre. 2. Aufl. p. 210.
++) Hartung l. c. -- Hepp, Henle's und Pfeufer's Zeitschrift. N. F. IV. 257.
Ludwig, Physiologie. II. 14

Muskeln.
Kali, 9,15 Phosphorsäure und 0,42 Kieselsäure bestanden. Analysen der
entfetteten Hirnmasse theilt v. Bibra *) mit.

Der Gefässreichthum der Nervencentren und insbesondere derjenige
der grauen Substanz erwecken die Vermuthung, dass dort eine lebhafte
chemische Thätigkeit stattfinden möge; diese Anschauung wird unterstützt
durch die bekannte Erfahrung, dass das Hirn rasch abstirbt, wenn der
Strom des arteriellen Blutes zum Hirn oder Rückenmark nur kurze
Zeit unterbrochen ist. Hiergegen spricht aber scheinbar die mehrfach
bestätigte Erfahrung Chossat’s, dass das Hirn verhungerter Thiere im
Gegensatz zu Fett, Muskeln u. s. w. einen nur unb[ede]utenden Gewichts-
verlust erlitten hat; eine kurze Ueberlegung führt uns aber sogleich noch
eine andere Erklärung dieser Erscheinung zu; denn es steht uns nichts
entgegen, anzunehmen, es sei das Hirn mit so energischer Verwandt-
schaft zu den Blutbestandtheilen begabt, dass es auch noch aus dem
Blut des hungernden Thiers, gleichsam auf Kosten der übrigen Organe,
den Verlust ersetze, welchen es während seines Bestehens fortdauernd
erleidet. — Da die chemische Zusammensetzung des Hirns nicht überall
dieselbe ist, so wird es daraus wenigstens ganz im Groben erklärlich,
warum Gifte, insbesondere Kohlensäure und Narkotika nicht alle Orte
desselben gleichmässig angreifen, so dass z. B. Digitalin die Ursprünge
des n. vagus, Opium die mit dem Bewusstsein in Verbindung stehenden
Stellen, Kohlensäure eher das grosse Gehirn als das verlängerte Mark
abtödtet.

Muskeln.

Der anatomische und chemische Bau der glatten und gestreiften
Muskelröhre ist schon abgehandelt **).

1. Ernährungserscheinungen. Die Muskelröhre entsteht ursprüng-
lich aus einer oder mehreren verlängerten und mit einander verwachse-
nen Primitivzellen; der Hohlraum dieser Röhre füllt sich dann von der
Peripherie gegen das Centrum hin mit kleinen Prismen oder Fasern. In
der Fötalperiode entsteht ein Muskelrohr nur dann, wenn die ihm zuge-
hörigen Nerven vorhanden sind (E. H. und Ed Weber) ***). Im erwach-
senen Individuum gehört ihre Neubildung ebenso wie die Verheilung
eines durchschnittenen Rohres mit Muskelsubstanz zu den höchsten Sel-
tenheiten; sie ist nur zweimal von Rokitansky und Virchow †) beob-
achtet worden; ob sich mit ihnen gleichzeitig Nerven entwickelten? —
Bei dem Wachsthum der Muskeln nimmt nicht die Zahl, sondern der
Umfang der in ihnen enthaltenen Röhren zu (Harting, Hepp) ††). Da-
mit in Uebereinstimmung fand Liebig, dass verdünnte Salzsäure,

*) Vergl. Untersuchungen u. s. w. p. 75.
**) I. Bd. p. 312 u. 349.
***) Leipziger Berichte. 1849. p. 136.
†) Kölliker, Handbuch der Gewebelehre. 2. Aufl. p. 210.
††) Hartung l. c. — Hepp, Henle’s und Pfeufer’s Zeitschrift. N. F. IV. 257.
Ludwig, Physiologie. II. 14
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[209/0225] Muskeln. Kali, 9,15 Phosphorsäure und 0,42 Kieselsäure bestanden. Analysen der entfetteten Hirnmasse theilt v. Bibra *) mit. Der Gefässreichthum der Nervencentren und insbesondere derjenige der grauen Substanz erwecken die Vermuthung, dass dort eine lebhafte chemische Thätigkeit stattfinden möge; diese Anschauung wird unterstützt durch die bekannte Erfahrung, dass das Hirn rasch abstirbt, wenn der Strom des arteriellen Blutes zum Hirn oder Rückenmark nur kurze Zeit unterbrochen ist. Hiergegen spricht aber scheinbar die mehrfach bestätigte Erfahrung Chossat’s, dass das Hirn verhungerter Thiere im Gegensatz zu Fett, Muskeln u. s. w. einen nur unbedeutenden Gewichts- verlust erlitten hat; eine kurze Ueberlegung führt uns aber sogleich noch eine andere Erklärung dieser Erscheinung zu; denn es steht uns nichts entgegen, anzunehmen, es sei das Hirn mit so energischer Verwandt- schaft zu den Blutbestandtheilen begabt, dass es auch noch aus dem Blut des hungernden Thiers, gleichsam auf Kosten der übrigen Organe, den Verlust ersetze, welchen es während seines Bestehens fortdauernd erleidet. — Da die chemische Zusammensetzung des Hirns nicht überall dieselbe ist, so wird es daraus wenigstens ganz im Groben erklärlich, warum Gifte, insbesondere Kohlensäure und Narkotika nicht alle Orte desselben gleichmässig angreifen, so dass z. B. Digitalin die Ursprünge des n. vagus, Opium die mit dem Bewusstsein in Verbindung stehenden Stellen, Kohlensäure eher das grosse Gehirn als das verlängerte Mark abtödtet. Muskeln. Der anatomische und chemische Bau der glatten und gestreiften Muskelröhre ist schon abgehandelt **). 1. Ernährungserscheinungen. Die Muskelröhre entsteht ursprüng- lich aus einer oder mehreren verlängerten und mit einander verwachse- nen Primitivzellen; der Hohlraum dieser Röhre füllt sich dann von der Peripherie gegen das Centrum hin mit kleinen Prismen oder Fasern. In der Fötalperiode entsteht ein Muskelrohr nur dann, wenn die ihm zuge- hörigen Nerven vorhanden sind (E. H. und Ed Weber) ***). Im erwach- senen Individuum gehört ihre Neubildung ebenso wie die Verheilung eines durchschnittenen Rohres mit Muskelsubstanz zu den höchsten Sel- tenheiten; sie ist nur zweimal von Rokitansky und Virchow †) beob- achtet worden; ob sich mit ihnen gleichzeitig Nerven entwickelten? — Bei dem Wachsthum der Muskeln nimmt nicht die Zahl, sondern der Umfang der in ihnen enthaltenen Röhren zu (Harting, Hepp) ††). Da- mit in Uebereinstimmung fand Liebig, dass verdünnte Salzsäure, *) Vergl. Untersuchungen u. s. w. p. 75. **) I. Bd. p. 312 u. 349. ***) Leipziger Berichte. 1849. p. 136. †) Kölliker, Handbuch der Gewebelehre. 2. Aufl. p. 210. ††) Hartung l. c. — Hepp, Henle’s und Pfeufer’s Zeitschrift. N. F. IV. 257. Ludwig, Physiologie. II. 14

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 2. Heidelberg und Leipzig, 1856, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie02_1856/225>, abgerufen am 28.11.2024.