Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

len. Dann ist er erst recht zwischen Himmel und Erde.
Er weiß, die leichteste Verschiebung der Leiter -- und
ein einziger falscher Tritt kann sie verschieben -- stürzt
ihn rettungslos hinab in den sichern Tod. Haltet den
Schlag der Glocken unter ihm zurück, er kann ihn
erschrecken! Die Zuschauer unten tief auf der Erde
falten athemlos unwillkührlich die Hände, die Dohlen,
die er von ihrem letzten Zufluchtsorte verscheucht, kräch¬
zen wildflatternd um sein Haupt; nur die Wolken am
Himmel gehen unberührt ihren Pfad über ihn hin.
Nur die Wolken? Nein. Der kühne Mann auf der
Leiter geht so unberührt, wie sie. Er ist kein eitler
Wagling, der frevelnd von sich reden machen will; er
geht seinen gefährlichen Pfad in seinem Berufe. Er
weiß, die Leiter ist fest; er selbst hat das fliegende Ge¬
rüst gebaut, er weiß, es ist fest; er weiß, sein Herz
ist stark und sein Tritt ist sicher. Er sieht nicht hinab,
wo die Erde mit grünen Armen lockt, er sieht nicht
hinauf, wo vom Zug der Wolken am Himmel der
tödtliche Schwindel herabtaumeln kann auf sein festes
Aug'. Die Mitte der Sprossen ist die Bahn seines
Blicks und oben steht er. Es gibt keinen Himmel und
keine Erde für ihn, als die Helmstange und die Leiter,
die er mit seinem Tau zusammenknüpft. Und der
Knoten ist geschlungen; die Zuschauer athmen auf und
rühmen auf allen Straßen den kühnen Mann und sein
Thun hoch oben zwischen Himmel und Erde. Schie¬

len. Dann iſt er erſt recht zwiſchen Himmel und Erde.
Er weiß, die leichteſte Verſchiebung der Leiter — und
ein einziger falſcher Tritt kann ſie verſchieben — ſtürzt
ihn rettungslos hinab in den ſichern Tod. Haltet den
Schlag der Glocken unter ihm zurück, er kann ihn
erſchrecken! Die Zuſchauer unten tief auf der Erde
falten athemlos unwillkührlich die Hände, die Dohlen,
die er von ihrem letzten Zufluchtsorte verſcheucht, kräch¬
zen wildflatternd um ſein Haupt; nur die Wolken am
Himmel gehen unberührt ihren Pfad über ihn hin.
Nur die Wolken? Nein. Der kühne Mann auf der
Leiter geht ſo unberührt, wie ſie. Er iſt kein eitler
Wagling, der frevelnd von ſich reden machen will; er
geht ſeinen gefährlichen Pfad in ſeinem Berufe. Er
weiß, die Leiter iſt feſt; er ſelbſt hat das fliegende Ge¬
rüſt gebaut, er weiß, es iſt feſt; er weiß, ſein Herz
iſt ſtark und ſein Tritt iſt ſicher. Er ſieht nicht hinab,
wo die Erde mit grünen Armen lockt, er ſieht nicht
hinauf, wo vom Zug der Wolken am Himmel der
tödtliche Schwindel herabtaumeln kann auf ſein feſtes
Aug'. Die Mitte der Sproſſen iſt die Bahn ſeines
Blicks und oben ſteht er. Es gibt keinen Himmel und
keine Erde für ihn, als die Helmſtange und die Leiter,
die er mit ſeinem Tau zuſammenknüpft. Und der
Knoten iſt geſchlungen; die Zuſchauer athmen auf und
rühmen auf allen Straßen den kühnen Mann und ſein
Thun hoch oben zwiſchen Himmel und Erde. Schie¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0080" n="71"/>
len. Dann i&#x017F;t er er&#x017F;t recht zwi&#x017F;chen Himmel und Erde.<lb/>
Er weiß, die leichte&#x017F;te Ver&#x017F;chiebung der Leiter &#x2014; und<lb/>
ein einziger fal&#x017F;cher Tritt kann &#x017F;ie ver&#x017F;chieben &#x2014; &#x017F;türzt<lb/>
ihn rettungslos hinab in den &#x017F;ichern Tod. Haltet den<lb/>
Schlag der Glocken unter ihm zurück, er kann ihn<lb/>
er&#x017F;chrecken! Die Zu&#x017F;chauer unten tief auf der Erde<lb/>
falten athemlos unwillkührlich die Hände, die Dohlen,<lb/>
die er von ihrem letzten Zufluchtsorte ver&#x017F;cheucht, kräch¬<lb/>
zen wildflatternd um &#x017F;ein Haupt; nur die Wolken am<lb/>
Himmel gehen unberührt ihren Pfad über ihn hin.<lb/>
Nur die Wolken? Nein. Der kühne Mann auf der<lb/>
Leiter geht &#x017F;o unberührt, wie &#x017F;ie. Er i&#x017F;t kein eitler<lb/>
Wagling, der frevelnd von &#x017F;ich reden machen will; er<lb/>
geht &#x017F;einen gefährlichen Pfad in &#x017F;einem Berufe. Er<lb/>
weiß, die Leiter i&#x017F;t fe&#x017F;t; er &#x017F;elb&#x017F;t hat das fliegende Ge¬<lb/>&#x017F;t gebaut, er weiß, es i&#x017F;t fe&#x017F;t; er weiß, &#x017F;ein Herz<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;tark und &#x017F;ein Tritt i&#x017F;t &#x017F;icher. Er &#x017F;ieht nicht hinab,<lb/>
wo die Erde mit grünen Armen lockt, er &#x017F;ieht nicht<lb/>
hinauf, wo vom Zug der Wolken am Himmel der<lb/>
tödtliche Schwindel herabtaumeln kann auf &#x017F;ein fe&#x017F;tes<lb/>
Aug'. Die Mitte der Spro&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t die Bahn &#x017F;eines<lb/>
Blicks und oben &#x017F;teht er. Es gibt keinen Himmel und<lb/>
keine Erde für ihn, als die Helm&#x017F;tange und die Leiter,<lb/>
die er mit &#x017F;einem Tau zu&#x017F;ammenknüpft. Und der<lb/>
Knoten i&#x017F;t ge&#x017F;chlungen; die Zu&#x017F;chauer athmen auf und<lb/>
rühmen auf allen Straßen den kühnen Mann und &#x017F;ein<lb/>
Thun hoch oben zwi&#x017F;chen Himmel und Erde. Schie¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[71/0080] len. Dann iſt er erſt recht zwiſchen Himmel und Erde. Er weiß, die leichteſte Verſchiebung der Leiter — und ein einziger falſcher Tritt kann ſie verſchieben — ſtürzt ihn rettungslos hinab in den ſichern Tod. Haltet den Schlag der Glocken unter ihm zurück, er kann ihn erſchrecken! Die Zuſchauer unten tief auf der Erde falten athemlos unwillkührlich die Hände, die Dohlen, die er von ihrem letzten Zufluchtsorte verſcheucht, kräch¬ zen wildflatternd um ſein Haupt; nur die Wolken am Himmel gehen unberührt ihren Pfad über ihn hin. Nur die Wolken? Nein. Der kühne Mann auf der Leiter geht ſo unberührt, wie ſie. Er iſt kein eitler Wagling, der frevelnd von ſich reden machen will; er geht ſeinen gefährlichen Pfad in ſeinem Berufe. Er weiß, die Leiter iſt feſt; er ſelbſt hat das fliegende Ge¬ rüſt gebaut, er weiß, es iſt feſt; er weiß, ſein Herz iſt ſtark und ſein Tritt iſt ſicher. Er ſieht nicht hinab, wo die Erde mit grünen Armen lockt, er ſieht nicht hinauf, wo vom Zug der Wolken am Himmel der tödtliche Schwindel herabtaumeln kann auf ſein feſtes Aug'. Die Mitte der Sproſſen iſt die Bahn ſeines Blicks und oben ſteht er. Es gibt keinen Himmel und keine Erde für ihn, als die Helmſtange und die Leiter, die er mit ſeinem Tau zuſammenknüpft. Und der Knoten iſt geſchlungen; die Zuſchauer athmen auf und rühmen auf allen Straßen den kühnen Mann und ſein Thun hoch oben zwiſchen Himmel und Erde. Schie¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/80
Zitationshilfe: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/80>, abgerufen am 19.05.2024.