Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

das offene Aug' des Tages hinein. Die Dohlen
hören's mit Entsetzen; das Menschenkind unten auf
der festen Erde vernimmt es nicht, die Wolken oben
am Himmel ziehen gleichmüthig darüber hin. Lang
währt das Pochen, dann verstummt's. Und den Rüst¬
stangen nach und quer auf ihnen liegend schieben sich
zwei, drei kurze Bretter. Hinter ihnen erscheint ein
Menschenhaupt und ein Paar rüstige Arme. Eine
Hand hält den Nagel, die andere trifft ihn mit ge¬
schwungenem Hammer, bis die Bretter fest aufgenagelt
sind und die fliegende Rüstung fertig. So nennt sie
ihr Baumeister, dem sie eine Brücke zum Himmel wer¬
den kann, ohne daß er es begehrt. Auf die Rüstung
baut sich nun die Leiter und, ist das Thurmdach sehr
hoch, Leiter auf Leiter. Nichts hält sie zusammen, als
der eiserne Längehacken, nichts hält sie fest, als auf der
Rüstung vier Männerhände und oben die Helmstange,
an der sie lehnt. Ist sie einmal über der Ausfahrthür
und an der Helmstange mit starken Tauen angebunden,
dann sieht der kühne Schieferdecker keine Gefahr mehr
in ihrem Besteigen, so weh dem schwindelnden Men¬
schenkinde tief unten auf der sichern Erde wird, wenn
es heraufschaut und meint, die Leiter sei aus leichten
Spänen zusammengeleimt wie ein Weihnachtsspielwerk
für Kinder. Aber eh' er die Leiter angebunden hat
-- und um das zu thun, muß er erst einmal hinauf¬
gestiegen sein, -- mag er seine arme Seele Gott befeh¬

das offene Aug' des Tages hinein. Die Dohlen
hören's mit Entſetzen; das Menſchenkind unten auf
der feſten Erde vernimmt es nicht, die Wolken oben
am Himmel ziehen gleichmüthig darüber hin. Lang
währt das Pochen, dann verſtummt's. Und den Rüſt¬
ſtangen nach und quer auf ihnen liegend ſchieben ſich
zwei, drei kurze Bretter. Hinter ihnen erſcheint ein
Menſchenhaupt und ein Paar rüſtige Arme. Eine
Hand hält den Nagel, die andere trifft ihn mit ge¬
ſchwungenem Hammer, bis die Bretter feſt aufgenagelt
ſind und die fliegende Rüſtung fertig. So nennt ſie
ihr Baumeiſter, dem ſie eine Brücke zum Himmel wer¬
den kann, ohne daß er es begehrt. Auf die Rüſtung
baut ſich nun die Leiter und, iſt das Thurmdach ſehr
hoch, Leiter auf Leiter. Nichts hält ſie zuſammen, als
der eiſerne Längehacken, nichts hält ſie feſt, als auf der
Rüſtung vier Männerhände und oben die Helmſtange,
an der ſie lehnt. Iſt ſie einmal über der Ausfahrthür
und an der Helmſtange mit ſtarken Tauen angebunden,
dann ſieht der kühne Schieferdecker keine Gefahr mehr
in ihrem Beſteigen, ſo weh dem ſchwindelnden Men¬
ſchenkinde tief unten auf der ſichern Erde wird, wenn
es heraufſchaut und meint, die Leiter ſei aus leichten
Spänen zuſammengeleimt wie ein Weihnachtsſpielwerk
für Kinder. Aber eh' er die Leiter angebunden hat
— und um das zu thun, muß er erſt einmal hinauf¬
geſtiegen ſein, — mag er ſeine arme Seele Gott befeh¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0079" n="70"/>
das offene Aug' des Tages hinein. Die Dohlen<lb/>
hören's mit Ent&#x017F;etzen; das Men&#x017F;chenkind unten auf<lb/>
der fe&#x017F;ten Erde vernimmt es nicht, die Wolken oben<lb/>
am Himmel ziehen gleichmüthig darüber hin. Lang<lb/>
währt das Pochen, dann ver&#x017F;tummt's. Und den Rü&#x017F;<lb/>
&#x017F;tangen nach und quer auf ihnen liegend &#x017F;chieben &#x017F;ich<lb/>
zwei, drei kurze Bretter. Hinter ihnen er&#x017F;cheint ein<lb/>
Men&#x017F;chenhaupt und ein Paar rü&#x017F;tige Arme. Eine<lb/>
Hand hält den Nagel, die andere trifft ihn mit ge¬<lb/>
&#x017F;chwungenem Hammer, bis die Bretter fe&#x017F;t aufgenagelt<lb/>
&#x017F;ind und die fliegende Rü&#x017F;tung fertig. So nennt &#x017F;ie<lb/>
ihr Baumei&#x017F;ter, dem &#x017F;ie eine Brücke zum Himmel wer¬<lb/>
den kann, ohne daß er es begehrt. Auf die Rü&#x017F;tung<lb/>
baut &#x017F;ich nun die Leiter und, i&#x017F;t das Thurmdach &#x017F;ehr<lb/>
hoch, Leiter auf Leiter. Nichts hält &#x017F;ie zu&#x017F;ammen, als<lb/>
der ei&#x017F;erne Längehacken, nichts hält &#x017F;ie fe&#x017F;t, als auf der<lb/>&#x017F;tung vier Männerhände und oben die Helm&#x017F;tange,<lb/>
an der &#x017F;ie lehnt. I&#x017F;t &#x017F;ie einmal über der Ausfahrthür<lb/>
und an der Helm&#x017F;tange mit &#x017F;tarken Tauen angebunden,<lb/>
dann &#x017F;ieht der kühne Schieferdecker keine Gefahr mehr<lb/>
in ihrem Be&#x017F;teigen, &#x017F;o weh dem &#x017F;chwindelnden Men¬<lb/>
&#x017F;chenkinde tief unten auf der &#x017F;ichern Erde wird, wenn<lb/>
es herauf&#x017F;chaut und meint, die Leiter &#x017F;ei aus leichten<lb/>
Spänen zu&#x017F;ammengeleimt wie ein Weihnachts&#x017F;pielwerk<lb/>
für Kinder. Aber eh' er die Leiter angebunden hat<lb/>
&#x2014; und um das zu thun, muß er er&#x017F;t einmal hinauf¬<lb/>
ge&#x017F;tiegen &#x017F;ein, &#x2014; mag er &#x017F;eine arme Seele Gott befeh¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[70/0079] das offene Aug' des Tages hinein. Die Dohlen hören's mit Entſetzen; das Menſchenkind unten auf der feſten Erde vernimmt es nicht, die Wolken oben am Himmel ziehen gleichmüthig darüber hin. Lang währt das Pochen, dann verſtummt's. Und den Rüſt¬ ſtangen nach und quer auf ihnen liegend ſchieben ſich zwei, drei kurze Bretter. Hinter ihnen erſcheint ein Menſchenhaupt und ein Paar rüſtige Arme. Eine Hand hält den Nagel, die andere trifft ihn mit ge¬ ſchwungenem Hammer, bis die Bretter feſt aufgenagelt ſind und die fliegende Rüſtung fertig. So nennt ſie ihr Baumeiſter, dem ſie eine Brücke zum Himmel wer¬ den kann, ohne daß er es begehrt. Auf die Rüſtung baut ſich nun die Leiter und, iſt das Thurmdach ſehr hoch, Leiter auf Leiter. Nichts hält ſie zuſammen, als der eiſerne Längehacken, nichts hält ſie feſt, als auf der Rüſtung vier Männerhände und oben die Helmſtange, an der ſie lehnt. Iſt ſie einmal über der Ausfahrthür und an der Helmſtange mit ſtarken Tauen angebunden, dann ſieht der kühne Schieferdecker keine Gefahr mehr in ihrem Beſteigen, ſo weh dem ſchwindelnden Men¬ ſchenkinde tief unten auf der ſichern Erde wird, wenn es heraufſchaut und meint, die Leiter ſei aus leichten Spänen zuſammengeleimt wie ein Weihnachtsſpielwerk für Kinder. Aber eh' er die Leiter angebunden hat — und um das zu thun, muß er erſt einmal hinauf¬ geſtiegen ſein, — mag er ſeine arme Seele Gott befeh¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/79
Zitationshilfe: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/79>, abgerufen am 25.11.2024.